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Armutsquote in Deutschland auf 16,8 Prozent gestiegen

30.11.2022 (pm/red) Die Armut in Deutschland sei bereits in den zurückliegenden 10 Jahren deutlich angestiegen und bedeutet damit eine denkbar schlechte Ausgangsposition für die fortgesetzten sozialen und wirtschaftlichen Verluste durch Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg und Rekordinflation. Der finanzielle Rückstand von Haushalten unter der Armutsgrenze gegenüber dem Einkommensmedian ist schon vor Beginn der Corona-Krise um ein Drittel gegenüber dem Jahr 2010 gewachsen. Auch die Ungleichheit der Einkommen insgesamt in Deutschland hatte, gemessen am Gini-Koeffizienten, 2019 einen neuen Höchststand erreicht. In Zeiten von hoher Inflation droht sozialer Abstieg auch Menschen, die sich während des vergangenen Jahrzehnts darum wenig Sorgen machen mussten.

Zu diesen Ergebnissen kommt der neue Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Die Studie zeigt auf, wie stark dauerhafte Armut in Deutschland die gesellschaftliche Teilhabe schon in wirtschaftlich stabilen Zeiten einschränkt: Arme müssen etwa deutlich häufiger auf Güter des alltäglichen Lebens wie eine Grundausstattung mit Kleidung oder Schuhen verzichten, sie können seltener angemessen heizen, leben auf kleinerem Wohnraum.

Sie haben einen schlechteren Gesundheitszustand, geringere Bildungschancen und sind mit ihrem Leben unzufriedener. Das führt bei vielen Betroffenen zu einer erhöhten Distanz gegenüber dem politischen System: Lediglich 68 Prozent der Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, halten die Demokratie für die beste Staatsform, nur 59 Prozent finden, die Demokratie in Deutschland funktioniere gut.

„Armut und soziale Polarisierung können die Grundfesten unseres demokratischen Miteinanders ins Wanken bringen, vor allem dann, wenn sie sich verfestigen“, sagt WSI-Direktorin Prof. Dr. Bettina Kohlrausch. „Mehr und wirksameres politisches Engagement gegen Armut ist also nicht nur notwendig, um den direkt Betroffenen zu helfen, sondern auch, um die Gesellschaft zusammenzuhalten.

Im neuen Verteilungsbericht werten die WSI-Expertinnen Dr. Dorothee Spannagel und Dr. Aline Zucco die aktuellsten vorliegenden Daten aus zwei repräsentativen Befragungen aus: Erstens aus dem sozio-oekonomischen-Panel (SOEP), für das rund 16000 Haushalte jedes Jahr interviewt werden, und das aktuell bis 2019 reicht. Zweitens der Lebenslagenuntersuchung der Hans-Böckler-Stiftung, für die 2020 und 2021 gut 4000 Menschen befragt wurden. Hinzu kommen Daten aus einer Repräsentativbefragung, die das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Stiftung im August 2022 zur Inflationsbelastung durchgeführt hat. Als arm definieren die Forscherinnen gemäß der üblichen wissenschaftlichen Definition Menschen, deren bedarfsgewichtetes Nettoeinkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in Deutschland beträgt.

Armut schon vor Beginn der Corona-Krise deutlich gewachsen

„Armut ist in der letzten Dekade deutlich angestiegen. Im Jahr 2019 waren so viele Menschen in Deutschland von Armut betroffen wie nie zuvor“, konstatieren Spannagel und Zucco zur Entwicklung während der 2010er Jahre – einem Zeitraum mit generell guter Wirtschaftsentwicklung und sinkender Arbeitslosigkeit, in dem auch die mittleren Einkommen spürbar zunahmen. Mit einigen zwischenzeitlichen Schwankungen stieg die Armutsquote laut SOEP zwischen 2010 und 2019 von 14,3 Prozent auf 16,8 Prozent – eine relative Zunahme um 17,5 Prozent. Die Quote der sehr armen Menschen, die weniger als 50 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hatten, ging im gleichen Zeitraum sogar um gut 40 Prozent in die Höhe: Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung wuchs von 7,9 auf 11,1 Prozent.

Wachsende Armutslücke

Deutlich größer wurde auch die Armutslücke – sie bezeichnet den Betrag, der einem durchschnittlichen armen Haushalt fehlt, um rechnerisch über die Armutsgrenze von 60 Prozent zu kommen. Im Jahr 2010 betrug der Rückstand 2968 Euro und sank bis 2013 leicht, um dann sehr schnell auf 3912 Euro im Jahr 2019 anzuwachsen, dem letzten vor dem wirtschaftlichen Einbruch durch die Corona-Pandemie. „Hier zeigt sich, dass die armen Haushalte von diesem Aufschwung nicht profitieren konnten, sondern den Anschluss daran verlieren“, schreiben Spannagel und Zucco.

Ungleichheit der Einkommen ebenfalls auf Höchststand: Das spiegelt sich auch im so genannten Gini-Koeffizienten wider, der ausweist, wie gleich oder ungleich die Einkommen verteilt sind. Auch die Gini-Kurve zeigte im Laufe der 2010er Jahre einige Schwankungen. Sie ging in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts moderat nach unten, um 2019 mit 0,296 einen neuen Höchststand zu erreichen. 2010 hatte der Wert noch bei 0,283 gelegen. Der vermeintlich kleine Anstieg ist durchaus signifikant. Und „selbst in den Jahren der Massenarbeitslosigkeit Anfang der 2000er Jahre“ war der Gini nicht höher, betonen die Wissenschaftlerinnen.

Schon vor der Energiepreisexplosion konnten fünf Prozent der Armen nicht richtig heizen. Die SOEP-Daten für 2019, die Spannagel und Zucco analysieren, machen deutlich, dass Armut selbst in einem reichen Land wie der Bundesrepublik und in wirtschaftlich recht stabilen Zeiten nicht selten mit alltäglichen Entbehrungen verbunden ist: Schon vor Corona-Krise und Rekordinflation konnten es sich gut 14 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze nicht leisten, neue Kleidung zu kaufen. Immerhin fünf Prozent fehlten die Mittel, um ihre Wohnung angemessen zu heizen, gut drei Prozent verfügten nicht einmal über zwei Paar Straßenschuhe.

Messbar sind auch andere Folgen von Armut: Lebenszufriedenheit, Qualität der Gesundheit, Bildung und Qualifikationen sind niedriger als im Bevölkerungsdurchschnitt, ebenso das Vertrauen in staatliche Institutionen von der Bundesregierung bis zu Polizei und Gerichten. In der Böckler-Lebenslagenbefragung stimmten lediglich 59 Prozent der Armen der Einschätzung zu, dass die Demokratie in Deutschland im Großen und Ganzen gut funktioniere, lediglich 68 Prozent hielten sie für die beste Staatsform – 11 bzw.14 Prozentpunkte weniger als in der Gesamtbevölkerung.

Bei der Armut kommen einzelne Studien auf Basis anderer Datenquellen zu unterschiedlichen Trendaussagen für die beiden von der Corona-Pandemie geprägten Jahre bis 2021. Dabei weist der Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands für 2021 einen neuen Höchststand aus.

Kürzertreten bei Bekleidung, Schuhe, Lebensmittelkauf

Aktuell ist angesichts von enormen Preissteigerungen bei den Basisgütern Energie und Nahrungsmitteln, die Haushalte mit niedrigeren Einkommen stärker treffen als Haushalte mit hohen Einkommen. Im August gaben beispielsweise mehr als zwei Drittel der Befragten mit niedrigeren Haushaltseinkommen unter 2000 Euro netto im Monat an, sich bei Ausgaben für Bekleidung oder Schuhe etwas oder bedeutend einschränken zu wollen – wohlgemerkt gegenüber einem schon vorher relativ geringen Niveau. Knapp 35 Prozent wollten sogar beim Kauf von Lebensmitteln kürzertreten. In der nächsthöheren Einkommensgruppe bis 3500 Euro Haushaltsnettoeinkommen lagen die Anteile mit gut 61 bzw. knapp 32 Prozent auch nicht viel niedriger und auch darüber war die Neigung zu Einschränkungen erheblich. Der Spardruck reicht also deutlich in die Mittelschicht hinein.

Reduzierung von Armut senkt soziale Kosten und Risiken

Die Befunde unterstrichen, dass Armut nicht nur die direkt Betroffenen schwer belaste, sondern auch die Gesellschaft insgesamt, so Spannagel und Zucco – sei es durch erhöhte Gesundheitskosten, mit Blick auf Fachkräftemangel oder schwindenden Rückhalt für die Demokratie. Um Armut nachhaltig zu bekämpfen, heben sie – jenseits von wirksamen und sozial gerechten Entlastungsmaßnahmen in der akuten Krise – fünf Maßnahmen hervor:

1. Höhere Löhne für Geringverdienende durch Stärkung der Tarifbindung und Rückbau des Niedriglohnsektors: In tarifgebundenen Betrieben sind die Löhne höher, auch und gerade am unteren Ende der Einkommenshierarchie. Daher profitierten Geringverdienende direkt von einer Bezahlung nach Tarif, so die WSI-Forscherinnen. Um die seit Jahren fortschreitende Erosion der Tarifbindung umzukehren, sollten das Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung erleichtert und Tariftreuevorgaben bei öffentlichen Aufträgen gestärkt werden. Zudem sollte sich der Mindestlohn langfristig an relativen Größen orientieren, um immer Anschluss an die allgemeine Entwicklung zu halten. Die Europäische Kommission etwa empfiehlt, den Mindestlohn bei mindestens 60 Prozent des mittleren Lohns anzusetzen.

2. Anhebung der Grundsicherung auf ein armutsfestes Niveau: Egal, ob sie ALG II heißt oder Bürgergeld: Die Regelsätze der sozialen Grundsicherung müssen nach Analyse der Verteilungsexpertinnen so weit angehoben werden, dass sie Einkommensarmut tatsächlich verhindern. Ebenso wichtig sei eine verlässliche öffentliche Daseinsvorsorge, also etwa ein gutes, bezahlbares Angebot bei öffentlichem Personennahverkehr und in der Energie- und Wasserversorgung, zudem flächendeckend gute Bildungseinrichtungen.

3. Förderung von sozialem Wohnraum und gut durchdachtes Quartiersmanagement: Bereits im Jahr 2018 gaben über 10 Prozent der Haushalte, die in Deutschlands Großstädten zur Miete lebten, mehr als die Hälfte ihres Einkommens für die Warmmiete aus. Fast die Hälfte musste dafür mindestens 30 Prozent aufwenden – ein Wert, der in Sozialforschung und Immobilienwirtschaft oft als Belastungsgrenze genannt wird. Aktuell dürfte die Zahl noch deutlich höher liegen. Es bestehe daher ein großer Bedarf an der Förderung von bezahlbarem Wohnraum, so Spannagel und Zucco. Gleichzeitig sollten Wohnquartiere so gestaltet sein, dass sie gezielt eine heterogene Sozialstruktur fördern. „Auch das ist ein wichtiger Baustein, um einer weiteren sozialen Spaltung der Gesellschaft entgegenzuwirken“, betonen die Expertinnen.

4. Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf: Wenn Familie und Beruf besser miteinander vereinbar sind, profitieren zwei Bevölkerungsgruppen ganz besonders davon: Familien mit nur einem (Vollzeit-)Erwerbseinkommen sowie Alleinerziehende – beides Haushaltstypen, die überdurchschnittlich von Armut betroffen sind. Flexiblere Arbeitszeitmodelle sowie leichterer Zugang zu verlässlicher, idealerweise kostenfreier, Kinderbetreuung sind hierzu wichtige Schritte. Auch egalitäre Sorgemodelle wie der Ausbau der Partnermonate und mehr Teilzeitmöglichkeiten für Väter könnten den Weg hin zu einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf ebnen.

5. Förderung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung und Qualifizierung: Gerade Personen im unteren Einkommensbereich arbeiten oft in atypischer Beschäftigung, haben befristete Stellen oder lediglich Minijobs. Hier müsse gezielt der Übergang in sichere und angemessen bezahlte sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gefördert werden, fordern die WSI-Expertinnen. Eine passgenaue Weiterqualifizierung von Menschen an den Rändern des Arbeitsmarktes sei ein weiterer wichtiger Baustein. Bei der Qualifizierung müssten ganz besonders Migrantinnen und Migranten in den Fokus genommen werden. So könne Fachkräftemangel gemildert und Menschen ihren Qualifikationen entsprechend vermittelt werden.

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