Das unerschrockene Wort – Lutherpreis 2023 an Afghanische Frauenrechtlerin Zarifa Ghafari
23.12.2022 (pm/red) Zarifa Ghafari ist die jüngste Bürgermeisterin Afghanistans – und das erste weibliche Stadtoberhaupt in einer afghanischen Provinz überhaupt. Im Amt ist sie von 2018 bis 2021 gewesen. Dann muss sie fliehen. Aus dem Exil setzt sie sich weiter für Frauenrechte und Demokratie in ihrer Heimat ein. Dafür zeichnen Marburg und die weiteren 15 Lutherstädte Deutschlands die 30-Jährige mit dem Preis „Das unerschrockene Wort“ 2023 aus. Der mit 10.000 Euro dotierte Preis soll am 15. April 2023 in Schmalkalden verliehen werden.
Bürgermeisterin Zarifa Ghafari musste fliehen
An ihrem ersten Tag als Bürgermeisterin im Juli 2018 verbarrikadierten Männer ihren Amtssitz in der Kleinstadt Maidan Shahr. Ein Mob, bewaffnet mit Steinen und Stöcken, bedrohte die junge Kommunalpolitikerin und verhinderte ihre Vereidigung. Beim zweiten Versuch fand sie ihr Büro durch Männer mit Maschinengewehren besetzt. Erst im Frühjahr 2019 konnte die damals 26-jährige Ghafari als Bürgermeisterin ins Amt eingeführt werden; aus Sicherheitsgründen lebte sie nicht in der Stadt, sondern musste von Kabul aus arbeiten. Ihre Geschichte hat die Tochter eines Soldaten und einer Physikerin daraufhin in den sozialen Netzwerken bekannt gemacht.
Warten auf die Ermordung durch die Taliban
Schon als Kind war Zarifa Ghafari das einzige Mädchen in der Schule, die sie ab dem zwölften Lebensjahr besuchte. Sie studierte Wirtschaftswissenschaften und arbeitete gleichzeitig schon für den Schutz und die Rechte afghanischer Frauen. Als einzige Frau unter 138 Bewerbern für das Bürgermeisteramt setzte sie sich aufgrund ihrer Eignung durch. Sie teilte öffentliche Informationen und Wissen zwischen Staat und Volk, investierte in den Mediensektor und gründete mit PEGHAL FM-Radio in Maidan Wardak einen Radiosender. Als Bürgermeisterin eröffnete sie einen Markt nur für Frauen in Maidan Shahr, schuf so Arbeitsplätze für Frauen. Unter dem Motto „Saubere Stadt – grüne Stadt“ warb sie dafür, Altpapier und -metalle einzusammeln, die zum Nutzen der Gemeinde wiederverkauft werden sollten.
Nicht einmal drei Jahre blieben ihr für diese Aufbauarbeit vergönnt. Nach der Machtergreifung der Taliban sah sie sich in der Situation, „nur noch auf die Ermordung durch die Taliban zu warten“. Im Sommer 2021 konnte Ghafari in letzter Minute mit ihrer Familie nach Deutschland fliehen. Von hier aus erhebt die intellektuelle, aufgeklärte junge Frau weiterhin ihre Stimme für die Frauen- und Menschenrechte in Afghanistan und in der Welt.
Junge Bürgermeisterin ist Vorbild und Ansporn zugleich
„Zarifa Ghafari ist eine mutige und starke Frau, die sich unter schwierigsten Bedingungen und trotz Gefahr für Leib und Leben für die Menschen und das Gemeinwohl in ihrer Heimat einsetzt“, würdigt Marburgs Oberbürgermeister Dr. Thomas Spies die junge Afghanin. „Sie beeindruckt mit ihrer Zivilcourage und ihre Unerschrockenheit. Und sie beeindruckt durch ihren unermüdlichen Einsatz gerade für Frauen und Mädchen – in einem System, das speziell unter den Taliban auf Frauenverachtung gründet, die Unterdrückung von Frauen per Gesetz zementiert und in der Gesellschaft mit brachialer Gewalt durchsetzt“, so Spies.
Gerade deshalb beeindrucke Zarifa Ghafari aber auch als Bürgermeisterin und Kommunalpolitikerin – weil sie sich nicht einschüchtern lasse, mutig handele, trotz aller Widrigkeiten Verantwortung übernehme und mit allen ihr zu Verfügung stehenden Mitteln für ein besseres, freieres Leben ihrer Mitbürger*innen kämpfe. „Damit ist sie auch für uns hier Vorbild und Ansporn zugleich“, so OB Spies.
Einstimmig hat sich der Bund der Lutherstädte, zu dem auch Marburg gehört, bei seiner Jurysitzung in Schmalkalden für Zarifa Ghafari als Trägerin des 14. Preises „Das unerschrockene Wort“ entschieden. Ausschlaggebend dafür war auch, dass die heute 30-jährige Kommunalpolitikerin „als eine von uns“ ganz besondere Sympathie und Solidarität genießt, berichtet Thomas Kaminiski, Schmalkaldens Bürgermeister und Gastgeber der diesjährigen Jury-Sitzung. Mit dem Preis ehrten die Vertreter/innen der Lutherstädte das „furchtlose und engagierte Wirken der jungen Frau, und zwar unter für uns in Deutschland unvorstellbaren Bedingungen“.
Blick schärfen für Zustände in Afghanistan
„Ich hatte nicht die Möglichkeiten, die Bürgermeister außerhalb Afghanistans haben, beispielsweise in europäischen Ländern“, sagt Zarifa Ghafari selbst zu ihrer Zeit als Stadtoberhaupt in Afghanistan. Trotzdem habe sie es geschafft, dass Schulen gebaut wurden. Auch Schulen für Mädchen. „Wir haben hart dafür gekämpft und gearbeitet, unsere eigene Welt aufzubauen. Doch wir konnten das Erreichte nicht genießen. Das ist wirklich sehr schmerzhaft“, so Zarifa Ghafari nach ihrer Flucht in Deutschland.
Mit der Wahl der Preisträgerin wollen die Lutherstädte auch den Blick auf das Afghanistan der Taliban schärfen. Frauenrechte werden dort mit Füßen getreten, viele Frauen ermordet, Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung wird ihnen verwehrt. Die Zustände in diesem Land, in dem so viele Menschen wie Zarifa Ghafari für ein freiheitliches demokratisches Gemeinwesen gekämpft haben, müssen mehr Beachtung finden, erklärt Thomas Kaminski nach der Jurysitzung. „In einem freiheitlich demokratischen Gemeinwesen gehört das freie Wort zu den wichtigsten konstruktiven Elementen“, zitiert der Wormser Oberbürgermeister aus der Präambel des Statuts für „Das unerschrockene Wort“.
Mehr über ihre Geschichte berichtet die Preisträgerin von „Das unerschrockene Wort“ in ihrem Buch „Zarifa – Afghanistan, Meine Heimat. Meine Geschichte“, erschienen im September 2022.
Hintergrund
Im Sinne der Zivilcourage Luthers (1483-1546), der mit seinen Thesen gegen den Ablasshandel Papst und Kaiser die Stirn bot, ehrt der Preis „Das unerschrockene „Wort“ seit 1996 mutige Menschen für Worte und Taten. Im vergangenen Jahr erhielten die Bürgerrechtlerinnen Veronika Zepkalo, Swetlana Tichanowskaja und Maria Kolesnikowa aus Belarus stellvertretend für die Demokratiebewegung in ihrem Land den Lutherpreis. 2019 ging „Das unerschrockene Wort“ an die Berliner Rechtsanwältin, Frauenrechtlerin und Moscheegründerin Seyran Ates. Die Verleihung des 12. Preises fand im April 2019 in der vollbesetzten Lutherischen Pfarrkirche in Marburg statt.
Dem Bund der Lutherstädte Deutschlands gehören neben Marburg die Städte Augsburg, Coburg, Eisenach, Eisleben, Erfurt, Halle (Saale), Heidelberg, Magdeburg, Nordhausen, Schmalkalden, Speyer, Torgau, Wittenberg, Worms und Zeitz an.