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Politikwissenschaftler über Ukraine-Krieg: „Zu Verhandlungen gibt es keine Alternative“

Diplomaten statt Granaten“ – Protestschild auf der „Macht Frieden!“ Demo am 18. Februar in München. Foto Frank Michler

28.02.2023 (red) Im Interview hat Johannes M. Becker, Mitgründer des Zentrums für Konfliktforschung der Universität Marburg, in der Wochenzeitung Freitag über mögliche Ansatzpunkte für Gespräche über ein Ende des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine gesprochen.

Friedensgespräche zwischen Russland und der Ukraine sind lang nicht so illusionär wie vielfach dargestellt. Tatsächlich existiert eine ganze Reihe von Anläufen und Vorschlägen. Darauf verweist auch der Konfliktforscher Johannes M. Becker, bis 2017 Geschäftsführer des von ihm mitgegründeten Zentrums für Konfliktforschung an der Universität Marburg. Er warnt eindringlich vor allem Leid, das eine Verlängerung des Ukraine-Krieges mit sich bringt und einer möglichen Eskalation zu einem dritten Weltkrieg.

der Freitag: Herr Becker, Befürworter von Friedensgesprächen wird immer wieder entgegengehalten, mit Wladimir Putin könne man nicht verhandeln. Mit seinem Einmarsch in der Ukraine habe er die ganze Welt belogen.

Johannes M. Becker: Ich bin nicht nur Meinung, dass man mit der russischen Regierung verhandeln kann, sondern auch der festen Überzeugung, dass man mit ihr verhandeln muss. Das Eigenartige an dieser bellizistischen Phase der Bundesrepublik ist, dass uns nun Ex-Generäle vorhalten müssen, dass man das kann, wie etwa der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr, Harald Kujat.
Wir müssen uns überlegen, welche entscheidenden Fehler in den vergangenen zehn Jahren gemacht wurden, auf Seiten des Westens wie des Ostens. Da hilft es uns nicht weiter zu sagen, Putin ist ein Lügner, und er will das alte zaristische Reich wieder herstellen. Wir müssen Russland akzeptieren als eine imperiale Macht auf dieser Erde. Und betreffend der eigenen Fehler würde ich damit beginnen, dass wir wortbrüchig geworden sind.

Im März und im Oktober 2022 hat die UN-Generalversammlung mit 141 von 195 Stimmen und 35 Enthaltungen den russischen Angriffskrieg verurteilt und sich für Friedensgespräche ausgesprochen, ebenso die Afrikanische Union und der Papst. Bislang ohne Erfolg.

Ich schließe mich da meinem Freund Hans von Sponeck an, der der Stellvertreter von Kofi Annan war. Er sagt, die UNO muss, bevor sie wieder ein politisches Subjekt ersten Ranges wird, reformiert werden. Die Vetomächte werden sich ihre Rechte nicht nehmen lassen, aber die Generalversammlung und die Rolle der NGOs müssen gestärkt werden. Die UNO wird im Moment nicht wirklich ernst genommen.

Für Friedensverhandlungen zwischen Russland und Ukraine bräuchte es einen Vermittler, den beide Seiten akzeptieren. Wer wäre Ihrer Ansicht nach dafür am besten geeignet?
Als Frankreichforscher sehe ich – trotz der verbalen Kraft Emmanuel Macrons bei der Sicherheitskonferenz in München – die französische Regierung in einer interessanten Position. Sie ist innenpolitisch in einer sehr schwierigen Lage: Millionen von Menschen protestieren aktuell gegen ihre Rentenreform. Staatspräsident Macron braucht dringend einen Erfolg, mit dem er sich profilieren kann. Ich schließe nicht aus, dass er sich in Kürze als Neogaullist inszeniert.

Während der gesamten Zeit des Ost-West-Konfliktes versuchte Frankreich bekanntlich, eine ausgleichende Rolle einzunehmen zwischen Warschauer-Pakt- und NATO-Staaten. Frankreich ist für lange Jahre aus der militärischen Integration der NATO ausgetreten. Die Skepsis gegenüber der NATO und den USA ist nach wie vor groß. Ich schließe nicht aus, dass die großen Wirtschaftsmächte Frankreich und Deutschland die Initiative ergreifen, mit der EU im Rücken, Friedensverhandlungen mit Russland zu befördern.

Die von der Bundesregierung gerade zugesagten Panzer weisen in eine ganz andere Richtung.
Bei den Panzerlieferungen muss man genau hingucken. Ich verweise da auf den ehemaligen Militärberater von Frau Merkel, General Erich Vad. Er sagt, dass 14 Leopard II-Panzer keinen Krieg in der Ukraine entscheiden und auch 100 Leopard I-Panzer nicht. Die Tatsache, dass die Ukraine nur 14 Leopard II-Panzer aus der Bundesrepublik bekommt – es gibt einen Riesenqualitätsunterschied zwischen Leopard I und II –, zeigt für mich, dass die Bundesregierung unter Führung der SPD sich doch noch eine Verhandlungstür offen hält.

Bundeskanzler Olaf Scholz versichert, er spreche häufig mit Putin – ebenso Macron. Und Deutschland ist als Exportnation am stärksten von den Folgen der Sanktionen betroffen. Dass überhaupt Sanktionen verhängt werden ohne die Perspektive, sie wieder aufzuheben, wenn Russland bestimmte Bedingungen einhält, finde ich sehr kontraproduktiv.

Kürzlich hat sich der brasilianische Präsident Lula als Vermittler angeboten. Auch die Türkei oder Indien sind dafür im Gespräch. Und jetzt in München hat China einen Friedensplan angekündigt.
Ich habe den Eindruck, dass sich im Moment weltpolitisch die Gewichte verlagern. Wir haben da nicht mehr nur den gar nicht mehr neuen Global Player China, sondern an seiner Seite auch die anderen BRICS-Staaten. Wer hätte das noch vor drei, vier Jahren ernst genommen, wenn Brasilien angeboten hätte, weltpolitisch zu vermitteln?

In Verhandlungen müsste auch über den Donbass gesprochen werden …
In Minsk waren dazu Wege erarbeitet worden, mit denen beide Seiten leben konnten: eine begrenzte Form der Souveränität für die abtrünnigen Provinzen innerhalb einer neutralen Ukraine. Die Frage ist nur, wer diesen Prozess wieder auf die Bahn bringen kann. Im Moment scheinen die Verhandlungswege verstopft zu sein. Es gibt einen Stellungskrieg, Russland versucht, in die Offensive zu kommen.

Man muss kein Generalstabsoffizier sein um zu wissen, dass die russische Armee nicht besiegbar ist. Man muss sich Russland einmal auf der Karte anschauen! Dazu kommt das hochgefährliche atomare Potenzial dieses Landes. Wir müssen verhandeln. Es gibt keine Alternative dazu.

Befürworter von Waffenlieferungen argumentieren oft damit, der Ukraine eine bessere Ausgangslage für Verhandlungen schaffen zu wollen.
Die Ausgangslage eines mehr und mehr zerbombten Landes kann nicht schlechter sein. Alle, die Waffenlieferungen befürworten, haben noch nie erlebt, wie das ist, wenn ein Maschinengewehr losprasselt oder eine Handgranate in ein Zimmer hineingeworfen wird. Ich kenne kein Beispiel dafür, dass man mit Öl ein Feuer gelöscht hat.

Es besteht die Gefahr eines eingefrorenen Kriegs. Was würde das bedeuten?
Ein eingefrorener Krieg kann nicht nur wieder aufflackern, sondern auch jeder Zeit in einen Atomkrieg münden. Heutzutage besteht die Möglichkeit, mit „Mini-Nukes“, die ungeheuer präzise gesteuert werden, kleine Nuklearschläge auszuüben, die aber ganz schnell eine Eskalation auslösen werden, der wir dann nicht mehr Herr werden. Ich bin nie ein Fan von Helmut Schmidt gewesen, aber wenige Tage vor seinem Tod hat er sehr richtig gesagt: „Lieber 100 Mal erfolglos verhandeln als einmal schießen.“

Johannes M. Becker, 70, ist Politikwissenschaftler. Er war Major in der Reserve der Bundeswehr und schrieb seine Habilitation zu der Sicherheitspolitik François Mitterrands. Über viele Jahre war er Geschäftsführer des von ihm mitgegründeten Zentrums für Konfliktforschung an der Universität Marburg. Er engagiert sich in der Friedensbewegung, organisiert Vorträge und einen Politischen Salon.

 

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