Forschung konzentriert sich auf geschlechtsspezifische Medizin
14.03.2024 (pm/red) Der kleine Unterschied kann einen großen Unterschied machen: Geschlechterspezifische Medizin rückt allmählich in den Vordergrund. Die traditionelle Gleichbehandlung, wenn es um die Gesundheit geht, gehört zwar nicht automatisch der Vergangenheit an, aber Forscher beschäftigen sich verstärkt damit, Diagnose und Behandlung den tatsächlichen Gegebenheiten anzupassen.
Der männliche Körper als Maß aller Dinge
Lange Zeit galt der männliche Körper und Organismus als Maß aller Dinge. Das Ergebnis war in erster Linie Fehlbehandlungen und falsche Diagnosen bei Frauen, weil die Geschlechter nicht gleich sind. Das fängt bei der Größe der Organe und dem Stoffwechsel an. Fettverteilung, Muskelmasse und Schmerzempfinden sind andere Bereiche, in denen sich die Geschlechter unterscheiden.
Dass die medizinische Gleichbehandlung drastische Folgen haben kann, stellte sich bei einer Reihe von vermeidbaren Autounfällen im morgendlichen Verkehr heraus. Betroffen waren Frauen, die abends ein Schlafmittel genommen hatten. Die Wirkung hielt bei ihnen viel länger vor als auf dem Beipackzettel angegeben war und war zudem deutlich stärker als die Mediziner annahmen. Die Medikamente hatten zwar vorab alle vorgeschriebenen Testphasen und Studien durchlaufen, waren aber an Männern erprobt und auf deren Physiologie zugeschnitten worden.
Geschlechterspezifische Medizin
Geschlechterspezifische Medizin bedeutet noch weitaus mehr, als nur die Dosis von Wirkstoffen zu verändern oder nach einer Diagnose von erektiler Dysfunktion Viagra kaufen. Die gleiche Krankheit kann sich bei Männern und Frauen auf verschiedene Weise äußern. Nichtwissen um gravierende Unterschiede kann in vielen Fällen zu gravierenden Folgen führen.
Herzinfarkte sind das beste Beispiel. Das deutlichste Symptom ist bei Männern ein plötzlicher starker Schmerz, der überwiegend im Brustbereich oder unter dem Brustbein auftritt. Diese Schmerzen halten meist länger als 5 Minuten an und können in andere Körperbereiche wie Arme, Oberbauch, Rücken oder Hals und Kiefer ausstrahlen. Ein massives Engegefühl und heftiger Druck auf der Brust sind weitere häufige Symptome bei Männern.
Frauen haben seltener die gleichen Anzeichen. Bei ihnen äußern sich Herzinfarkte oft durch Schmerzen im Oberbauch, Übelkeit, Atemnot, Benommenheit und ziehende Schmerzen in den Armen.
Weil die Symptome nicht dem klassischen, von Männern bekannten Bild entsprechen, warten viele Patientinnen deutlich länger, ehe sie den Notruf wählen. Unterschiede gibt es auch, was die Schnelligkeit der Diagnose angeht – und das bei einer Krankheit, in der jede Minute über Leben und Tod entscheiden kann.
Frauen zögern länger Hilfe zu holen
Dass Frauen oft länger als Männer zögern, Hilfe zu rufen und prozentual häufiger am Herzinfarkt sterben, liegt aber nicht nur an der weniger leicht erkennbaren Symptomatik. Frauen sind daran gewöhnt, dass ihre Krankheiten und Wehwehchen weniger ernst genommen werden als bei Männern. Ein spezieller Forschungsfokus der geschlechterspezifischen Medizin liegt deshalb auch auf den soziokulturellen Auswirkungen.
Vielfach werden die Symptome von Frauen bei Arztbesuchen auf Hormone geschoben und auf die leichte Schulter genommen. Weil sich das Schmerzempfinden bei den Geschlechtern unterscheidet, werden vielfach Beschwerden falsch eingeschätzt.
Männer können ebenso negativ von der Gleichbehandlung in der Medizin betroffen sein. Das Problem ist die Einstufung von physischen und psychischen Erkrankungen in typische Männer- und Frauenbeschwerden.
Brustkrebs ist bei Frauen die häufigste Krebsart
Brustkrebs ist bei Frauen mit großem Abstand die häufigste Krebsart. Früherkennung ist der wichtigste Faktor, wenn es um die erfolgreiche Behandlung geht. Doch auch Männer können Brustkrebs bekommen, wenn auch die Fallzahl pro Jahr in Deutschland nur bei rund 650 Neuerkrankungen liegt.
Osteoporose gilt ebenfalls als typische Frauenkrankheit. Weil die Knochendichte vor allem in den Wechseljahren von der Hormonveränderung beeinflusst wird, werden Anzeichen bei Männern häufig übersehen. In der EU gelten 21 Millionen Frauen als Osteoporose-Patienten. Bei den Männern sind es rund 5,5 Millionen. Da die Skeletterkrankung aber als eines der am stärksten vernachlässigte Krankheitsbilder bei den Männern gilt, dürfte die Dunkelziffer deutlich höher liegen.
Essstörungen und Depressionen werden bei Männern unterschätzt
Essstörungen und Depressionen werden ebenfalls noch häufig unterschätzt, wenn es um Männer geht. Dabei sind diese auch bei ihnen im Kommen. Vor allem die unrealistischen Bilder, die auf sozialen Medien rund um die Uhr propagiert werden, tragen zu dem soziokulturellen Druck bei, was Aussehen und Erfolg anbelangt.
Der neue Forschungsansatz beschäftigt sich mit den Unterschieden in den Krankheitsbildern und der Aufklärung, auch beim medizinischen Personal. Doch die richtige Diagnostik ist nur der Anfang. Unterschiede bei der körperlichen Reaktion auf Medikamente beschränken sich nicht auf Schlafmittel. In fast allen Bereichen sind Anpassungen erforderlich, wenn es um medikamentöse Therapien geht, von der Schmerztablette bis zur Chemotherapie.
Neue Erkenntnisse in der Zahnmedizin
Sogar in der Zahnmedizin macht sich das bemerkbar. Dass Männer und Frauen verschieden hohe PH-Werte im Speichel haben, ist eine neue Erkenntnis. Die Differenz im Mund bedeutet, dass Zahnpasta, Mundspülung und mehr zumeist perfekt auf die Bedürfnisse von Männern abgestellt, aber weniger ideal für Frauen sind.
Schritt für Schritt sind Forscher damit beschäftigt, Studien und Tests anzupassen und neue Ergebnisse in die alltägliche Medizin einfließen zu lassen. Die geschlechterspezifische Medizin hat noch einen weiten Weg vor sich, aber die Anhänger setzen alles daran, dass statt Gleichbehandlung in Sachen Gesundheit so bald wie möglich Gleichberechtigung herrscht.
Zugunsten der besseren Lesbarkeit wurden einige Zwischenüberschriften und Absätze eingefügt.