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Gelingende Inklusion von Kindern mit und ohne Körperbehinderungen

Marburg 5.7.2012 (pm/red) Sieht so die Schule der Zukunft aus?Auch der gemeinsame Unterricht von Kindern mit und ohne Körperbehinderungen ist möglich. Dazu müssen die Schulen allerdings bestimmte Voraussetzungen erfüllen. Welche das sind, erläutert eine Studie, die Würzburger Sonderpädagogen jetzt der Öffentlichkeit vorgestellt haben.  Sowohl Kinder mit als auch Kinder ohne mehrfache Behinderung besuchen gemeinsam den Unterricht, der in einem Gebäude stattfindet, das barrierefrei eingerichtet ist. Soziokulturelle und sozioökonomische Voraussetzungen des Elternhauses sowie die Höhe des individuellen Unterstützungsbedarfes entscheiden nicht darüber, ob ein inklusiver Schulbesuch ermöglicht wird. In den Klassen kümmern sich möglichst zwei Lehrkräfte um die Schüler: eine ’normale‘ und eine mit der speziellen sonderpädagogischen Ausbildung. Keine Klasse hat mehr als 24 Schüler.

Ergo- und Physiotherapeuten kommen in die Schule oder befinden sich dauerhaft vor Ort; Schüler mit einer körperlichen oder mehrfachen Behinderung erhalten bei ihnen ein speziell für sie zugeschnittenes Therapieangebot. Außerdem stehen diesen Schülern besonders qualifizierte Begleiter zur Seite und helfen ihnen dabei, den Alltag zu bewältigen. Alle Beteiligten – auch die Eltern – sind in das Konzept einbezogen und können sich in dessen Weiterentwicklung einbringen. Eine wahrlich ‚inklusive Schule‘.

Untersuchung an Schulen im Raum Köln
So könnte es zumindest aussehen, wenn die Vorschläge umgesetzt werden, die der Würzburger Sonderpädagoge, Professor Reinhard Lelgemann, in einer neuen Studie gemacht hat. Lelgemann ist Inhaber des Lehrstuhls für Sonderpädagogik II der Universität Würzburg; Körperbehindertenpädagogik ist sein Spezialgebiet. Im Auftrag des Landschaftsverbands Rheinland (LVR) haben er und seine Mitarbeiter an Schulen im Raum Köln über zwei Jahre hinweg untersucht, unter welchen Bedingungen Schüler mit und ohne körperliche und mehrfache Behinderung gemeinsam den Unterricht besuchen können.

Lelgemanns Fazit: „Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit körperlichen und mehrfachen Behinderungen ist möglich, wenn Voraussetzungen an Schulen geschaffen werden.“

Für die Studie hat das Team über 4.000 Schüler, deren Eltern, Schulleitungen und Lehrkräfte von Förderschulen, integrativ oder inklusiv arbeitenden Schulen sowie von 19 allgemeinen Schulen befragt. Außerdem haben die Wissenschaftler mehr als 80 Einzel-Interviews geführt. Zusätzlich hat Dr. Christian Walter-Klose, Mitarbeiter am Lehrstuhl, eine umfangreiche internationale Literaturrecherche durchgeführt und die Befunde von mehr als 80 Studien aus 13 Ländern systematisch ausgewertet. Heterogenität spielte im Rahmen des Forschungsprozesses eine besondere Rolle. Nicht nur die Verknüpfung unterschiedlicher Forschungsmethoden kennzeichnet das Besondere der Forschungsarbeit – auch das Forschungsteam war interdisziplinär besetzt. Walter-Klose ist ausgebildeter Diplom-Psychologe, Philipp Singer ist Diplom- und Sonderpädagoge und Jelena Lübbeke Sonderpädagogin. „Auf diese Weise konnten – ganz im Sinne der Inklusion – die Stärken der Vielfalt genutzt werden“, so Reinhard Lelgemann.

Die Ergebnisse der Studie
„Eines der zentralen Ergebnisse unserer Untersuchung ist, dass gemeinsamer Unterricht für viele Kinder und Jugendliche mit körperlichen Beeinträchtigungen möglich ist und von vielen Beteiligten als positiv bewertet wird“, sagt Lelgemann. Damit Inklusion in der Schule gelingt, müsse jedoch ein bestmögliches schulisches Bildungsangebot abgesichert werden, das die Unterschiedlichkeit der Schülerschaft berücksichtigt, so Lelgemann weiter. In ihrer Studie haben die Wissenschaftler detailliert aufgelistet, welche Kriterien dafür erfüllt werden müssen.

„Wichtig ist es, in einem ersten Schritt eine konzeptionelle Verständigung zwischen allen am Schulleben beteiligten Personen darüber zu erreichen, dass Schülerinnen und Schüler mit Behinderung aufgenommen werden sollen. Wir brauchen also eine möglichst breite Zustimmung der gesamten Schule“, erklärt Diplompädagoge Singer.

Weiter gelte es, die soziale Situation und die Unterstützungsbedürfnisse von Schülern mit einer Behinderung zu beachten. Gibt es genügend Ruhephasen zwischen den Unterrichtseinheiten? Reichen die Pausenzeiten? Wer begleitet Rollstuhlfahrer auf die Toilette? Können sie an Ausflügen und Exkursionen teilnehmen? Solche und weitere Alltagsfragen müssen auf eine für die Betroffenen zufriedenstellende Art und Weise geklärt sein, damit Inklusion gelingt. „Es darf beispielsweise nicht sein, dass Mütter zu Hilfe kommen müssen, wenn ein Schüler zur Toilette muss“, sagt Lelgemann. Genau das aber hatten Schüler mit einer Behinderung in den Interviews mit den Wissenschaftlern als Grund dafür angeführt, weshalb sie sich auf einer allgemeinen Schule nicht wohl gefühlt hatten.

Weiter sieht der Forderungskatalog der Sonderpädagogen unter anderem folgende Punkte vor:

  • Eltern müssen bei der Schulwahl unabhängig und neutral beraten werden. Das Gelingen schulischer Inklusion darf nicht mehr länger an soziokulturelle Voraussetzungen des Elternhauses gekoppelt sein.
  • Die Schulen müssen den Austausch von Schülern mit und ohne Behinderungen anstoßen und gestalten, beispielsweise durch besondere Angebote im Ganztagsbereich.
  • Alle Beteiligten müssen sich in festen Teams regelmäßig austauschen. Wichtig ist dabei auch die intensive Zusammenarbeit mit Eltern, Therapeuten, Unterrichtsbegleitern und Sozialpädagogen.
  • Keine Klasse darf mehr als 24 Schüler aufnehmen; in möglichst vielen Lerngruppen sollen zwei Lehrkräfte anwesend sein. Sonderpädagogen mit dem entsprechenden Fachwissen sollen dauerhaft an den Schulen arbeiten oder zumindest in einer intensiven Kooperation beratend zur Seite stehen.
  • In speziellen Fortbildungen sollen die Lehrkräfte und die Begleiter auf ihre neuen Anforderungen vorbereitet werden.
  • Im Unterricht kommen differenzierende Methoden zum Einsatz. Jedes Kind erhält im Idealfall Aufgaben mit einem Schwierigkeitsgrad, der seinem Wissen und Können angemessen ist.
  • Kinder mit einer Behinderung erhalten bei Prüfungen einen Nachteilsausgleich. Dabei soll in der Klasse mit dem Thema Behinderung und Nachteilsausgleich offen und taktvoll umgegangen werden.
  • Die Schule muss sich auch um soziale und rehabilitative Bedürfnisse der Schüler kümmern und beispielsweise Besonderheiten bei der Berufswahl, der individuellen Lebensgestaltung und der sozialen Teilhabe im Blick behalten.

Oder, in einem Satz: „Personal und Organisation sind zwei Bereiche, in denen noch viele Veränderungen notwendig sind, um das gemeinsame Lernen sinnvoll zu etablieren“, sagt Lelgemann.

Damit inklusiver Unterricht an einer allgemeinen Schule allen Schüler das bestmögliche schulische Bildungsangebot ermöglicht, ist vor allem eines nötig: Zeit. „Der Bildungsauftrag für Menschen mit Behinderung in der allgemeinen Schule erfordert zusätzliche Zeitressourcen für Zusammenarbeit und adaptive Unterstützungssysteme“, schreiben die Wissenschaftler in ihrer Studie.

Eine Vielzahl von Modellen ist möglich
Als ein Plädoyer zur Auflösung aller Förderschulen wollen Lelgemann und seine Mitarbeiter ihre Studie allerdings nicht verstanden wissen. „Unsere Erkenntnisse legen keine spezifische Struktur eines zukünftigen inklusiveren Bildungsangebots nahe“, sagt Lelgemann. Neben der oben geschilderten Variante einer „inklusiven Schwerpunktschule“ seien auch andere Modelle vorstellbar.

So könnten einzelne Schüler mit einer Körperbehinderung die Regelschule an ihrem Wohnort besuchen, begleitet von einem Beratungsdienst der Förderschule. Auch ganze Klassen einer Förderschule könnten samt Lehrern und Therapeuten an die allgemeine Schule wechseln und mit den „normalen“ Klassen kooperieren. Oder Förderschulen öffnen sich für alle Schüler und entwickeln sich selbst zu einer inklusiven Schule.

Wichtig dabei sei jedoch in erste Linie eines: „Alle diese Handlungsmöglichkeiten führen nur dann zu bestmöglichen schulischen Bildungsangeboten, wenn sich die entwickelnden inklusiven Schulen, die Förderschulen und deren Träger ihrer besonderen Verantwortung für diesen Schulentwicklungsprozess bewusst sind“, sagt Lelgemann. Darüber hinaus müssten diese Prozesse durch klare bildungs- und finanzpolitische Entscheidungen dauerhaft abgesichert werden, damit zukünftig eine bestmögliche schulische Inklusion unter Beibehaltung des Rechts auf freie Wahl des schulischen Bildungsortes für alle Schülerinnen und Schüler verwirklicht werden könne.

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