Wahrnehmungsforschung zum Sehen will Meisterleistung des Gehirns verstehen
Marburg 2.11.2012 (pm/red) Unsere Augen sind einem permanenten Beschuss sensorischer Signale ausgesetzt. Komplexe Abbilder sich ständig ändernder Farb-, Kontrast und Musterzusammensetzung werden von den Oberflächen der Umwelt auf die Netzhaut projiziert. Das Gehirn schafft es, diese Wechselhaftigkeit der Bilder in einer „sinnvollen“ Art zu verarbeiten, die es uns erlaubt, die Welt in all ihren Facetten zu sehen. Wie das Gehirn diese Aufgabe bewerkstelligt, verstehen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler jedoch bis heute nicht vollständig. Eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe der Justus-Liebig-Universität Gießen (JLU) hat sich zum Ziel gesetzt, das komplexe Rätsel um die visuelle Verarbeitung beim Menschen zu lösen. Ein von der EU finanziertes Forschungs- und Bildungsbündnis (PRISM) soll Licht in das Dunkel bringen, wie das Gehirn das ‚Aussehen und Gefühl‘ von alltäglichen Objekten repräsentiert. Das Projekt läuft über vier Jahre mit einen Gesamtvolumen von über 3 Millionen Euro; die JLU erhält über 770.000 Euro.
„Sehen ist für uns etwas, was wir bedenkenlos hinnehmen: Das, was wir sehen, ist das, was da draußen in der Welt existiert“, erklärt Roland Fleming PhD, Professor für Experimentelle Psychologie der JLU. „Hinter unserer Fähigkeit zu sehen steckt jedoch ein überaus leistungsstarker Computer – das Gehirn. Künstliche Computer können einerseits eine Vielzahl von Aufgaben erledigen, an denen Menschen scheitern würden. Andererseits existiert bisher kein einziger Computer, der von einem Bild auf die Formen, Materialien und die physikalischen Eigenschaften der darauf abgebildeten Oberflächen schließen kann. Unser Ziel ist es zu verstehen, wie das Gehirn diese Aufgabe bewerkstelligt“, erläutert Fleming das Forschungsvorhaben.
Er koordiniert das Marie Curie Initial Training Network mit dem Thema ‚Repräsentation der Wahrnehmung von Beleuchtung, Form und Materialien‘. Das von der EU finanzierte interdisziplinäre Netzwerk bringt Topteams aus der Wissenschaft und der Industrie zusammen. Die Arbeitsgruppe setzt sich zusammen aus Psychologen, Neurowissenschaftlern, Computerwissenschaftlern, Ingenieuren und Industriedesignspezialisten aus ganz Europa. Ihr gemeinsames Ziel besteht in der Ausbildung einer zukünftigen Forschergeneration in einer scheinbar ungewöhnlichen Kombination von Fähigkeiten, die benötigt werden, um Fortschritte beim Verständnis des menschlichen Sehens machen zu können.
Zu verstehen, wie unterschiedlich Beleuchtungen, Oberflächen und Materialien letztendlich tatsächlich optisch auf den einzelnen Menschen einwirken, liegt nicht nur im Interesse von Neurowissenschaftlern, die erforschen, wie das Gehirn funktioniert. Es gehe beispielsweise auch um Anwendungen in der Wirtschaft, erläutert Fleming. Industriedesigner, wie die Partner von Philips und der TU Delft (Niederlande), investierten viel Geld, um ‚Aussehen und Gefühl‘ für Konsumelektronik, Textilien und Verpackungen zu entwickeln und zu verbessern.
Ein weiteres Anwendungsgebiet liegt im Bereich der Computergrafik. Ein besseres Verständnis davon, wie das visuelle System Bilder verarbeitet und interpretiert, kann dabei helfen, Computergraphiken realistischer und effizienter zu machen. Auch in diesem Bereich ist die Arbeitsgruppe mit NextLimit, einer Softwarefirma aus Madrid, die für die Special Effects zahlreicher Hollywood Blockbuster verantwortlich ist, als Partner sehr gut vertreten.