Vortrag ‚Wie das Wirtschaftsdenken das Klassenzimmer erobert – Von der OECD zur neuen Unterrichtspraxis‘
Marburg 28.11.2012 (pm/red) Im Rahmen der bildungspolitischen Veranstaltungsreihe wird am Donnerstag, den 29. November wird Dr. Sigrid Hartong von der Universität Bamberg ab 19 Uhr im Hörsaalgebäude in der Biegenstraße 14 zu folgendem Thema sprechen. Zum Thema ihres Vortrags ‚Wie das Wirtschaftsdenken das Klassenzimmer erobert – Von der OECD zur neuen Unterrichtspraxis‘ hat die Referentin einige Thesen übermittelt, die den Zusammenhang beleuchten sollen.
- Die Schulreform ist getragen von einem neuen Paradigma: Lebenslanges Lernen für die globale Wissensgesellschaft und zum Bestehen im globalen Wettbewerb.
- Die OECD ist Teil einer globalen diskursiven Allianz bzw. Formation, die eine bestimmte Denke im Bildungsbereich verbreitet. Sie hat eine machtvolle ‚Sprecherposition‘ inne und darf Aussagen über Schulsysteme treffen, die nationale Politiker, Bildungsforscher und Reformakteure, als Wahrheit annehmen und ihr Handeln danach ausrichten.
- Die aktuelle Situation ist das Ergebnis eines Wandels, im Zuge dessen sich international sowohl das neue Leitbild als auch eine neue Form von Bildungssteuerung – Benchmarking, Monitoring, Indikatorisierung von Bildung, Standardisierung – durchgesetzt haben.
- Diese Koordinierungsmethoden führen trotz scheinbarer (diskursiver) Offenheit zur langfristigen Durchsetzung eines globalen Wettbewerbsgedanken, gerade weil offene Wertediskussionen vermieden werden (eine implizite Wertung findet trotzdem statt).
- Paradoxon: Auf der einen Seite sollen die Bildungsindikatoren, Konzepte und Agenden ein global verwertbares, abstraktes Modell verkörpern, auf der anderen Seite werden sie selbst innerhalb bestimmter Kulturen und Kontexte (also innerhalb der OECD, in Washington oder Paris, innerhalb bestimmter Foren und Konstellationen) designt und sind entsprechend geprägt.
- Neues Allwort und Kern des Diskurses ist Qualitätssicherung.
- Arbeit der Internationalen Organisationen ‚von oben‘ wird ergänzt durch Agenten des Wandels, die ‚von unten‘ wirken bzw. die Reform kanalisieren. Die ebenenübergreifenden Netzwerke fungieren als Diffusionskanäle der transnational induzierten Konzeption von Bildung und Lernen.
- BMBF und KMK stehen trotz Föderalismusreform in traditioneller Konfliktstruktur zueinander; das BMBF übt massiv Reformdruck aus und fördert entsprechende Bildungsforschung und Reformprojekte (Beispiel: Bildung vor Ort), die KMK ist spätestens seit er Initiierung der Bildungsstandards zur Reformkraft geworden. Dabei wird PISA in die politische Logik umgedeutet und zum Katalysator.
- Die Akteure des nationalen Bildungsdiskurses werden neu positioniert. Humanistische Argumente geraten dabei in den Raum des Nicht-Sagbaren: Das Testregime kann nicht Schuld am Testversagen sein!
- Besondere Schlüsselrolle nimmt das IQB (Institut für Qualitätssicherung im Bildungswesen) ein und bildet in gewisser Weise das Reformäquivalent zur OECD auf nationaler Ebene.
- Jedes Bundesland hat im letzten Jahrzehnt das neue Bildungsparadigma umgesetzt: Eigenverantwortliche Schule, gekoppelt mit einem schärferen Accountabilitysystem (Rechenschaftslegung über den Output der Lernleistung), Evaluation (intern und extern), Umsetzung der Bildungsstandards und Teilnahme an Vergleichsstudien. Dabei haben Denkfabriken, Stiftungen und Beratungsagenturen massiv Einfluss genommen.
- An den Schulen selbst wird ein neuer Beratungs-Bedarf konstruiert, der gleichzeitig durch Schulberater, Unterrichtstrainer oder Evaluationscoaches gestillt werden soll. Agenten des Wandels werden so auch auf Schulebene geschaffen und ‚tragen‘ das neue Paradigma in die Schulpraxis.
- Durch die neue Identifizierung der Schulen als im Wettbewerb stehende Organisation (Lesart der Beratung) wird durch die greifenden Schließungsprozesse die Tür für private Anbieter und ein entsprechendes Wirtschaftsdenken geöffnet.