Städte mit Leid und Leiden verbunden – Gedenken der aus Marburg 1943 deportierten Sinti
Marburg 29.3.2013 (red) Am 23. März 1943 wurden 23 Bürger aus Marburg in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert, weil sie Sinti waren. Genau 70 Jahre später wurde an dieses Verbrechen vor der Gedenktafel am Bauamt in der Barfüßerstraße erinnert, und am 28. März endete eine Tafelausstellung im Rathaus, die über den Leidensweg dieser ethnischen Gruppe informiert. Europaweit wurden 500.000 Sinti und Roma, damals mit dem Sammelbegriff ‚Zigeuner‘ bezeichnet, unter der Nazi-Diktatur ermordet.
Was sie in den Vernichtungslagern erleiden mussten, hat die überlebende Sintezza Anna Mettbach in ihrer Autobiografie geschildert (I-verb.de-Verlag Seeheim).
Sie wurde mit 16 Jahren nach Auschwitz verschleppt und verheiratete sich nach dem Krieg nach Gießen. Als eine der wenigen Zeitzeuginnen ließ sie es sich nicht nehmen, ob ihres hohen Alters von 87 Jahren am Gedenken in Gießen und in Marburg teilzunehmen.
In Gießen wurden bereits am 16. März 1943 vierzehn Sinti vom Bahnhof per Viehwaggon nach Auschwitz deportiert. Vor diesem Hintergrund hat in der südlichen Nachbarstadt Marburgs ebenfalls eine Gedenkveranstaltung stattgefunden. Dort wurde ebenso eine Ausstellung organisiert, die bis 12. Mai im Oberhessischen Museum im Alten Schloss am Brandplatz zu sehen ist. Es werden Künstlerarbeiten gezeigt, Leihgaben aus dem Otto-Pankok-Museum in Hünxe am Niederrhein. Zu sehen sind etwa 30 riesenformatige Kohlezeichnungen des Künstlers Otto Pankok.
Pankok war ein engagierter Künstler. Bekannt ist sein Holzschnitt ‚Christus, der das Gewehr zerbricht‘ von 1950. Aus einer bürgerlichen Arztfamilie stammend, lebte er seit 1931 immer wieder lange Phasen in der ‚wilden Siedlung‘ Heinefeld am Rand von Düsseldorf. Dort hatte er sich ein ‚Atelier‘ in einem Hühnerstall eingerichtet und als ‚Molari‘, der Maler, das Vertrauen der Bewohner erworben. In den Baracken lebten vor allem Sinti- und Romafamilien.
Pankok porträtierte viele von ihnen. Meist einzeln, mal Vater oder Mutter mit Kind. Großfamilien sucht man vergebens, wohl weil der Künstler die Individualität unterstreichen wollte. Pauschal wurden ‚Zigeuner‘ als schmutzig, diebisch oder unstet diskriminiert.
„Hier entdeckte ich, daß die Kunst in ein neues Stradium treten muß. Ich glaube, daß die ‚art pour l’art‘ vorbei ist. Ich glaube, daß man mit gemalten Blumenvasen, auch wenn alles noch so schön gemacht ist, nicht mehr das Leben fassen kann. Das Böse, bisher im Zaum gehalten, ist heute losgelassen, die Welt tobt höllenwärts. Was man täglich erlebte, war Folterung, Menschenjagd, Knebelung, Lüge, Raub“, so schrieb 1934 der als expressiver Realist geltende Pankok. Von den Nazis wurde er mit Malverbot belegt.
Auch seine ab 1931 im Heinefeld entstandenen Sinti-Porträts haben einen ausgesprochen expressiven Duktus. Die Kohlezeichnungen zeigen nuancierteste Abstufungen zwischen Schwarz und Weiß. Nur an wenigen Stellen, etwa den Fingernägeln, ist das weiße Papier unbearbeitet. Die rissigen Baracken, die kaum möblierten Räume, die Planwagen im Hintergrund, ärmlichen Kleider und hoffnungslosen Minen, all das ist mit kräftiger schwarzer Kohle gezeichnet. Erhalten die düsteren Großformate ihr seltsames Leuchten von der Sympathie des Künstlers?
Er zeichnete seine Modelle meist ohne Blickkontakt, um zu signalisieren, dass er die eigene Welt der Sinti-Kultur respektiert. Die betonte er durch die üppige Haarpracht, worauf die Frauen stolz sind. Einige der Exponate entstanden erst nach Kriegsende, weil die Vorurteile gegenüber Sinti und Roma bis heute bestehen.
Gegenwärtig richten sie sich recht ungeschminkt gegen die Sinti- und Romaflüchtlinge aus Südosteuropa. Diese gleichen in ihrer Armut und Hoffnungslosigkeit den von Pankok porträtierten Menschen. Und heute gehen manche Bildungsbürger ungerührt an Bettelnden vorbei. Wenngleich sie um die Verfolgung in deren Heimatländern wissen.
Nach 1945 half Otto Pankok praktisch, etwa bei der schwierigen Erlangung von Wiedergutmachung. Bis 1958 lehrte er als Professor an der Düsseldorfer Kunstakademie. Günter Grass war unter seinen Studenten. Bis zu seinem Tod 1966 begriff er sein engagiertes Schaffen als „Stellungnahme gegen alles, was das Leben gemein, sinnlos und eng macht“. Informationen über die Gießener Ausstellung ‚Sinti-Bilder 1931 bis 1948‘ und die sie begleitenden Vorträge, darunter Professor Solms von der Marburger Gesellschaft für Antiziganismus-Forschung, gibt es telefonisch: 0641-960 97 30. Eintritt frei.
Ursula Wöll