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Höhere Produktivität und mehr Innovationen auf regulierten Arbeitsmärkten

Marburg 17.10.2013 (pm/red) Eine Deregulierung des Arbeitsmarktes soll aus Sicht angebotsorientierter Ökonomen das Wirtschaftswachstum beschleunigen. Die Empirie spricht nicht dafür, dass dies funktioniert. Der Grund: Hire and fire statt stabiler Jobs bremst Innovationen, zeigt eine aktuelle Untersuchung. Die weniger regulierten Arbeitsmärkte der angelsächsischen Länder wurden in Deutschland lange als Vorbild gepriesen und stehen nun Modell für sogenannte „Strukturreformen“ in Südeuropa. Dahinter steht die Vorstellungswelt der neoklassischen Ökonomie: Je geringer die Bedeutung von Arbeitsschutzgesetzen, Kündigungsschutz sowie zentral statt individuell ausgehandelten Löhnen, desto weniger vermeintliche „Störfaktoren“ bringen die Wirtschaft aus dem Gleichgewicht. Ist diese Theorie in der Praxis haltbar?

Das hat Prof. Dr. Alfred Kleinknecht, Wirtschaftsprofessor an der Universität Delft und Senior Fellow am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung, mit einigen Forscherkollegen untersucht. Das Ergebnis: Ökonomien mit unterschiedlich organisierten Arbeitsmärkten haben sich in der Vergangenheit durchaus unterschiedlich entwickelt. Aber weniger Regeln bedeuten weder mehr Wachstum noch weniger Arbeitslosigkeit.

Für ihre Untersuchung, die in den WSI-Mitteilungen erschienen ist, haben die Forscher zwei Gruppen von Ländern gebildet*. Die eine repräsentiert das liberale Modell: lockerer Kündigungsschutz, niedrige Sozialleistungen, schwache Gewerkschaften, dezentrale Lohnverhandlungen, ausgeprägte Einkommensunterschiede. Darunter fallen die USA, Großbritannien, Kanada, Australien und Neuseeland. Die andere Gruppe besteht aus den „koordinierten Marktwirtschaften“ Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, den Niederlanden, Österreich, Spanien, Portugal, Dänemark, Schweden und Finnland.

Dann haben die Wissenschaftler verglichen, wie sich die Wirtschaft in den beiden Ländergruppen von 1960 bis heute entwickelt hat. Es zeigt sich:

– In puncto Wirtschaftswachstum gibt es keinen nennenswerten Unterschied zwischen liberalen und koordinierten Marktwirtschaften.

– Die Reallöhne stiegen in Kontinentaleuropa schneller als in angelsächsisch geprägten Ländern.

– Die Zahl der Arbeitsstunden nahm dagegen in den liberalen Ländern deutlich zu, während sie im „alten Europa“ stagnierte.

– Die Arbeitsproduktivität wuchs in Ländern wie Deutschland, Frankreich und Italien deutlich schneller.

Offenbar, so die Forscher, produzieren beide Modelle in etwa die gleiche Wirtschaftleistung, das liberale benötigt dazu wegen des geringeren Wachstums der Produktivität jedoch mehr – und schlechter bezahlte – Arbeitsstunden.

Gibt es in den liberalen Marktwirtschaften wegen des höheren Arbeitsaufwands zumindest weniger Erwerbslose? Empirisch bestätigt sich diese Vermutung nicht: Kleinknecht und seine Koautoren haben die durchschnittlichen Arbeitslosenquoten der Jahre 1970 bis 2010 berechnet und kommen für die USA, Großbritannien, Kanada und Australien auf 6,9 Prozent. Die Vergleichsgruppe mit Ländern wie Deutschland, Frankreich und Italien lag mit 6,3 Prozent knapp darunter.

Ein Grund für dieses Phänomen – etwas höhere Arbeitslosenquote trotz deutlich größeren Arbeitsvolumens – sind der Untersuchung zufolge Unterschiede bei den individuellen Arbeitszeiten: „Die flexiblen Arbeitsmarktinstitutionen in den angelsächsischen Ländern geben den Arbeitgebern mehr Macht, längere Arbeitszeiten durchzusetzen.“ Zwischen 1990 und 2010 arbeiteten die Beschäftigten hier durchschnittlich 1.739 Stunden im Jahr, 165 mehr als in den kontinentaleuropäischen Ländern.

Außerdem haben die Wissenschaftler Studien unter die Lupe genommen, die empirisch nachweisen wollen, dass „Arbeitsmarktrigiditäten“ die Arbeitslosigkeit erhöhen, etwa eine viel zitierte Untersuchung von Stephen Nickell und anderen über Erwerbslosigkeit und Arbeitsmarktinstitutionen in OECD-Ländern seit den 1960er-Jahren. Kleinknecht und sein Team kommen zu dem Schluss, dass der behauptete Zusammenhang „nicht robust“ ist. Das heißt: Verändert man nur kleine Details der Schätztechnik oder den Beobachtungszeitraum, bleibt von den Ergebnissen nichts übrig.

Das alte Europa: Innovativ dank sicherer Arbeitsplätze. Dass Kontinentaleuropa bei Wachstum und Beschäftigung trotz höherer Löhne und kürzerer Arbeitszeiten mithält, kann die neoklassische Theorie nicht erklären. Es gibt aber andere Ansätze: Zentral ist den Wissenschaftlern zufolge das Thema Innovation. Eine routinierte, ständige Verbesserung von Produkten und Arbeitsabläufen sei in einem Wirtschaftsmodell mit stabilen Arbeitsbeziehungen besser zu organisieren als unter einem Hire-and-fire-Regime.

Hohe Motivation, Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber, lange Betriebszugehörigkeiten und wachsende Spezialkenntnisse, Bereitschaft zur Weiterbildung, weniger Aufwand für Überwachung der Beschäftigten und Einarbeitung neuer Mitarbeiter sowie Arbeitnehmer, die auf Missstände aufmerksam machen können, ohne ihren Job zu riskieren – dies seien die Erfolgsfaktoren einer vermeintlich „unflexiblen“ Wirtschaft, deren Beschäftigte mit der Rückendeckung eines wirksamen Kündigungsschutzes und eines ausgebauten Sozialstaats arbeiten. So erkläre sich, dass koordinierte Marktwirtschaften produktiver arbeiten, wie viele empirische Untersuchungen bestätigen.

Entsprechend warnen die Forscher: „Die Deregulierung von Arbeitsmärkten hat ihren Preis.“ Es sei nicht beides zugleich zu haben: hochproduktive Betriebe und billige, stets austauschbare Arbeitskräfte.

*Alfred Kleinknecht u.a.: Schadet die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts der Innovation?, in: WSI-Mitteilungen 4/2013.

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