Zur Bedeutung kleiner Universitätsstädte in Europa
140207 (pm) Am 5. Februar 2014 besuchte die Wissenschaftliche Chefberaterin des Präsidenten der Europäischen Kommission, Professorin Dr. Anne Glover, die Philipps-Universität Marburg. Zunächst informierte sie sich im Hochsicherheitslaboratorium der Betriebssicherheitsstufe 4 (BSL4) der Universität über die Erforschung hochpathogener Viren zu diagnostischen, therapeutischen und präventiven Zwecken. Nach einem Eintrag in das Goldene Buch der Universitätsstadt Marburg und der Begrüßung durch Universitätspräsidentin Professorin Dr. Katharina Krause sprach Glover in der Aula der Alten Universität zum Thema: „How small university towns shape European culture“.
„Für mich ist Wissenschaft eine der kreativsten Beschäftigungen, der Menschen nachgehen können; ich sehe sie auf einer Ebene mit Dichtung, Bildhauerei, Kunst“, sagte eingangs die wissenschaftliche Chefberaterin, die selbst aktive Forscherin ist. Ausgehend von den Überlegungen, dass die Neugierde den Menschen in den Genen stecke und Wissenschaft den homo sapiens ausmache, beschrieb Glover den Beitrag der Forschung zur Entwicklung der Gesellschaft. “Wissenschaft hilft uns, den großen Herausforderungen der Menschheit wie begrenzten Ressourcen, Hunger oder Naturkatastrophen zu begegnen, schafft Innovation und Arbeitsplätze“, erklärte Glover. Wissenschaft baue Brücken zwischen Völkern, da Forscher auch dann noch im nationenübergreifenden Dialog stünden, wenn Länder wie die USA und Nordkorea politisch eine eher unfreundliche Haltung zueinander einnähmen. „Und außerdem macht Wissenschaft auch noch Spaß“, begeisterte sie sich.
Sie hob die hervorragenden Leistungen in Wissenschaft, Ingenieurwesen und Technik hervor: mit Erfindungen wie Buchdruck, Röntgendiagnostik und DNA-Analysen sowie Erkenntnissen der Philosophie sei praktisch die moderne Welt begründet worden. Gerade in der unbegrenzten Imagination des Menschen läge der Schlüssel zur Erfindung der Zukunft und die Basis unseres Wohlstandes. „Die Wissenschaften gehören zu den Grundpfeilern unserer europäischen Kultur“, sagte sie.
Die Rolle kleiner Universitätsstädte wie Oxford, Pisa, Salamanca oder Marburg sei in diesem Zusammenhang keinesfalls zu unterschätzen, fuhr Glover fort. Städte mit weniger als 150.000 Einwohnern, die sich zu einem bedeutenden Teil aus Universitätsangehörigen zusammensetzten, und in Stadtbild, Wirtschaft, Gesellschaft und Kulturleben von einer oft jahrhundertealten Universität geprägt seien, atmeten Wissenschaft in jeder Sekunde. Sie unterstrich die symbiotische Beziehung zwischen Stadt und Hochschule, die kulturelle Vielfalt und oft eine differenzierte politische Landschaft hervorbrächten. Auch Fahrräder, belebte Straßen, Kneipen und ein Fluss als ständige Inspirationsquelle seien oft in solchen Orten anzutreffen. „Legendär ist auch der Wettbewerb mit der benachbarten Hochschule – wie zwischen Gießen und Marburg oder Cambridge und Oxford“, erklärte Glover mit einem Augenzwinkern. Konkurrenz sporne an, die Grenzen des Wissens weiter hinauszuschieben, und dies auch gemeinsam zu tun.
Trotz – oder vielleicht sogar wegen – der geographisch nicht immer zentralen Lage seien kleine Universitätsstädte ein wahres Eldorado für Ideenaustausch. Globale Denker an kleinen Orten hätten schon oft die Weltsicht der Menschen verändert – etwa Galilei, Newton, Darwin oder Alfred Wegener, der in Marburg zur Kontinentaldrift forschte. Bedeutende Erfindungen wie Denis Papins erste Versuchsdampfmaschine seien an Orten wie Marburg gemacht worden und Ausgründungen wie die Behringwerke übersetzten Wissen in praktischen Nutzen und belebten die Wirtschaft. Forschungsprojekte wie die Märchensammlung der Gebrüder Grimm hätten schließlich die Grundlage für milliardenschwere Unternehmen wie die Disney Filmindustrie geschaffen. „Cinderella ist kein amerikanisches Mädchen, sondern sie verdankt ihre Existenz einer kleinen Universitätsstadt an der Lahn“, führte Glover aus.
Von Hunderten kleiner Universitätsstädte gehe die Kraft aus, Europa zu verändern: „Ohne kleine Universitätsstädte wäre Europa nicht vorstellbar, denn mit dem Wissen, das dort entsteht, gestalten wir unsere Zukunft“, schloss sie.