Berechnungsverfahren für Hartz-IV-Satz mit eklatanten Schwächen
140408 Der Hartz-IV-Regelsatz soll das soziokulturelle Existenzminimum sichern. Ob er das auch tut, ist zweifelhaft. Jedenfalls hat das angewandte Berechnungsverfahren nach wie vor eklatante Schwächen. Das wirkt sich deutlich auf die Höhe des Regelsatzes aus, zeigt eine neue, von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Studie*: Wäre das Berechnungsverfahren bei der Neuregelung 2011 nur in den zuvor vom Bundesverfassungsgericht kritisierten Punkten korrigiert worden, läge der Hartz-IV-Satz heute bei 424 Euro im Monat. Das sind 33 Euro mehr als derzeit tatsächlich gezahlt werden (siehe auch die Infografik; Link unten). Ursache für die Differenz sind nach Analyse der Studienautoren Dr. Irene Becker und Dr. Reinhard Schüssler eine hoch problematische Verkleinerung der Referenzgruppe, aus deren Konsumausgaben der Regelsatz grundsätzlich abgeleitet wird, sowie weitgehend „freihändige“ Streichungen im weiteren Berechnungsverfahren.
Bis 1990 orientierte sich die Höhe des Sozialhilfesatzes an den Preisen eines Warenkorbes. Er enthielt, was eine Expertengruppe als notwendig für ein Leben in Würde erachtete, etwa bestimmte Mengen an Lebensmitteln oder Körperpflegeprodukten. Weil die Zusammenstellung stets auf bestreitbaren Werturteilen beruhte und dem Verfahren häufig ein bevormundender Charakter attestiert wurde, trat an die Stelle des Warenkorbmodells das so genannte Statistikmodell. Dabei bemisst sich der Regelsatz der Grundsicherung nicht nach Expertenurteilen, sondern nach dem tatsächlichen Konsumverhalten der Bevölkerung. Genauer: nach den Ausgaben der Haushalte, die zwar niedrige Einkommen haben, aber noch nicht auf Grundsicherung angewiesen sind. Die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe des Statistischen Bundesamtes dient dabei als Datenbasis.
Bei „sachgerechter“ Anwendung sei diese Methode auch ein „angemessenes Verfahren“, schreiben die Verteilungsforscher Dr. Irene Becker und Dr. Reinhard Schüssler in ihrer Studie. Allerdings gebe es erhebliche Defizite bei der Umsetzung, weshalb das Grundsicherungsniveau nur gut ein Drittel des durchschnittlichen Lebensstandards erreiche. Dass so „Teilhabe ermöglicht und soziale Ausgrenzung verhindert wird, ist stark zu bezweifeln“, urteilen Becker und Schüssler. Sie schlagen vor, künftig „eine gesellschaftlich akzeptable minimale relative Position der Grundsicherungsbeziehenden zu definieren und zur Überprüfung der Ergebnisse der Regelbedarfsbemessung heranzuziehen“. Das könnte zum Beispiel ein bestimmter Prozentsatz des mittleren Einkommens oder Konsums sein.
Die Wissenschaftler kritisieren vor allem zwei Punkte:
Referenzgruppe ist von der Einkommensentwicklung abgehängt
Die Höhe eines soziokulturellen Existenzminimums ist von gesellschaftlichen Standards abhängig, die mit dem Statistikmodell erfasst werden können, so die Wissenschaftler. Wenn zur Berechnung des Regelsatzes jedoch eine Bezugsgruppe herangezogen wird, die selbst von der allgemeinen Einkommensentwicklung abgehängt ist, sinkt das Existenzminimum – relativ gesehen – immer weiter. Als Referenzgruppen zur Regelsatzbestimmung dienen nach aktueller Gesetzeslage die unteren 15 Prozent – statt der vormals üblichen unteren 20 Prozent – der nach dem Einkommen sortierten Alleinstehenden, die nicht selbst auf Hartz IV angewiesen sind. Bei Familien mit Kindern sind es die unteren 20 Prozent.
Da der Referenzhaushaltstyp der Alleinstehenden eine nur unterdurchschnittliche Position in der Gesamtverteilung erreicht, wäre hier ein breiterer Referenzeinkommensbereich zweckmäßig, schreiben Becker und Schüssler. Tatsächlich orientiert sich der Regelsatz für Alleinstehende ihrer Studie zufolge an einer Personengruppe, die gerade einmal auf ein Drittel des durchschnittlichen Einkommens und etwa die Hälfte des durchschnittlichen Konsums kommt.
Willkürliche Kürzungen höhlen das Berechnungsmodell aus
Eigentlich müssten nahezu alle vom Statistischen Bundesamt ermittelten Ausgaben der Bezugshaushalte (außer für die im Hartz-IV-Fall extra bezahlte Warmmiete) zur Bestimmung des Regelsatzes herangezogen werden, um dem Grundgedanken des Statistikmodells gerecht zu werden. Tatsächlich kann der Gesetzgeber aufgrund „normativer Setzungen“ bestimmte Konsumkategorien aber für irrelevant erklären. Er tut das zum Beispiel bei Tabakwaren und alkoholischen Getränken, Schnittblumen oder chemischer Reinigung. Diese Möglichkeit führte – in Kombination mit der veränderten Abgrenzung der Bezugsgruppe – dazu, dass der Regelsatz bei der Neuregelung 2011 kaum stieg. Zwar hatte das Bundesverfassungsgericht darauf gedrungen, dass bestimmte Bedarfsfelder wie Mobilität stärker berücksichtigt werden. Doch das Arbeitsministerium kürzte im Gegenzug an anderen Stellen, so dass am Ende ein beinahe unveränderter Hartz-IV-Satz herauskam. Becker und Schüssler mahnen daher an, die „freihändige“ Umsetzung – eine Formulierung aus dem Urteil des Verfassungsgerichts von 2010 – des Statistikmodells müsse „grundsätzlich verändert werden“.