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In Marburg das Wohnraumproblem anders angehen – Interview zum Kommunalwahlergebnis mit Dr. Michael Weber

Sitzverteilung Stadtverordnetenversammlung MarburgMarburg 22.3.2016 (red) Die Kommunalwahl am 6. März 2016 hat für Marburg erhebliche Veränderungen gebracht. Inzwischen gibt es Gespräche und Verhandlungen für eine neu zu konstuierende Mehrheit. Eine Konstante ist die Wiederwahl von Dr. Michael Weber für die PIRATEN. Damit bleibt ein kritischer und konstruktiver Stadtverordneter mandatiert und kann weiter Anregungen und Beiträge leisten, an denen es von ihm in den vergangenen Jahren nicht gemangelt hat. das Marburger. hat Dr. Weber zum Wahlergebnis und zu seinen Einschätzungen und Vorstellungen zukünftiger Stadtpolitik befragt.

Redaktion: Sie sind als PIRAT wiedergewählt worden in Marburg, Herr Dr. Weber. Wie bewerten Sie das Marburger Kommunalwahlergebnis im Allgemeinen? 

Ich denke, dass die Marburger dank unsere wunderbaren Kumulieren-und-Panaschieren-Systems ein sehr differenzierrtes Wahlergebnis produziert haben. Hut ab!
Ich finde es faszinierend, dass wir es trotz nur halb gefüllter Liste geschafft haben, unser Mandat zu halten, zumal wir auch kaum Wahlkampf betrieben haben. Die Tatsache, dass es letztlich Direktstimmen an einzelne Kandidaten unserer Liste waren, die unser Mandat sicherten interpretiere ich so, dass wir tatsächlich eines unserer Kernziele erreicht haben: Wir konnten Wähler aus allen Lagern für uns interessieren – jenseits des üblichen Mitte-Links-Rechts-Schubladensystems, in das wir uns bis heute erfolgreich nicht haben einsortieren lassen. Analysiert man unser Ergebnis genauer, kommt man zu dem Schluss, dass wir im Gegensatz zu anderen hessischen Regionen in Marburg das Ergebnis aus 2011 halten konnten, während es anderswo eher bergab ging: 0,8% als Listenwählerergebnis bei halb gefüllter Liste entspräche 1,6% bei voller Liste. 0,3% haben die Marburger mit Direktstimmen draufgesattelt – also 1,1% Realergebnis und 1,9% als Ergebnis wenn die Liste voll gewesen wäre (also identisch zu 2011).
Der Linksruck: Hätte mich vor der Wahl jemand gefragt, eine Verdopplung der Sitze der Marburger Linke hätte ich nie erwartet. Das ist ein Meilensteinergebnis, das ich so noch nie in der Kommunalpolitik gesehen habe. Chapeau! Als strikter Verfechter einer Gemeinwohlmaximierung sind mir auch soziale Themen sehr wichtig und ich hoffe, die werden durch diesen Linksruck auch stärker in den Vordergrund rücken. Allerdings kann ich es mir nicht verkneifen darauf hinzuweisen, dass auch wir Piraten soziale Themen sehr in den Vordergrund stellen – vermutlich sogar konsequenter.
Die Zugewinne von FDP und CDU kann ich mir beim besten Willen nicht erklären. Ich erinnere mich an kaum einen interessanten Antrag aus beiden Parteien – mit Ausnahme des bei uns gut geklauten Antrags zur Eintunnelung der Stadtautobahn, dem wir ja auch beigetreten sind.

Redaktion: Die langjährige Rot-Grüne Mehrheit gibt es nicht mehr in Marburg. Wird das von Ihnen begrüßt und welchen WählerInnenwillen erblicken Sie darin?

Vor allem die Grünen haben herbe Einbußen hinnehmen müssen und dafür gibt es aus meiner Sicht Gründe, die ich nicht auf einen natürlichen Stimmenrückgang nach einem übermäßig guten Wahlergebnis in 2011 wegen des Fukushimavorfalls zurückführen würde. Stattdessen wurden viele regionale und auch überregionale Versprechungen nicht eingehalten und dafür gab es nun die verdiente Quittung. Nehmen wir mal das Thema Stadtautobahn: Da hatte man sich gross aus dem Fenster gelehnt, es müsse dort eine Geschwindigkeitsreduktion geben. Was ist passiert? Nichts! Und das, obwohl man in Hessen in der Regierungsverantwortung ist. Dann die Einführung einer (aus unserer Sicht unsinnvollen) Umweltzone in Marburg, aber die Stadtautobahn wird ausgenommen – ich empfinde das als schizophren.
Und so ließe sich das fortführen: Zum VITOS-Gelände lag von Prof. Kraft ein Gutachten vor, das Tierarten von der Roten Liste auf dem zu bebauenden Gebiet auswies. Wer holzt ab? Die Grünen. Das verstehe, wer will – aus meiner Sicht ist es unglaubwürdige Politik. Weiteres Beispiel: In Sachen Frankfurter Fluglärm – erst groß gegen dessen Ausweitung demonstrieren, dann in Regierungsverantwortung selbst dafür sorgen, das es noch mehr wird. Sechs. Setzen.

Redaktion: Was sind in Ihren Augen die wichtigsten Anliegen und Aufgaben für Marburg in den kommenden Jahren?

Da wäre zunächst die Schaffung von bezahltbarem Wohnraum als Kernproblem. Dann eine massive Verbesserung des ÖPNV im Sinne einer Umlagefinanzierung, die von allen solidarisch getragen wird – analog zum Semsterticket für Studenten. Dies wird nicht nur zur verbesserten Teilhabe am öffentlichen Leben, sondern auch zu einer Entlastung der Verkehrssituation in Marburg beitragen. Wenn mehr Leute den ÖPNV nutzen, lindern wir das Parkplatzproblem und reduzieren die Abgas- und Lärmproblematik in der Stadt.
Dann halten wir es für besonders wichtig, dass sich sehr genaue Gedanken darüber gemacht werden, inwieweit die Integration der Flüchtlinge in unsere Gesellschaft gelingen kann. Hier hielten wir auch eine kontinuierliche wissenschaftliche Begleitung der anstehenden Aufgaben durch die Uni Marburg für sinnvoll.
Viele andere Probleme, wie beispielsweise das immer weiter ausufernde Problem der Altersarmt viele Menschen, werden wir allein auf Kommunalebene nicht lösen können und daher überregional angehen müssen.

Redaktion: Was sollte in Marburg geändert werden und wie?

Gezeichnetes Szenario für Marburg wieder ohne Stadtautobahn aus der Arbeit der Diplom-Ingenieure Luttrop und Metzger, die bereits in 2006 vorgelegt worden ist.

Gezeichnetes Szenario für Marburg ohne Stadtautobahn aus der Arbeit der Diplom-Ingenieure Luttrop und Metzger, die bereits in 2006 vorgelegt worden ist.

Wir sollten uns darum bemühen, die Stadtautobahn unter die Erde zu bringen, um einen neuen Stadtteil am Fluss bauen zu können und damit neuen Wohnraum zu schaffen (und zwar bezahlbarer Wohnraum!). Dazu liegen zig Konzepte vor, inkl. Finanzierungsdetails, die angestoßen durch die Bürgerinitiative Stadtautobahn Marburg von technischen Hochschulen über mehrere Jahre erarbeitet wurden. Wenn ich mich an die Veranstaltung zu diesem Thema anlässlich der Bürgermeisterwahlen in 2015 zurück erinnere, kann ich mir angesichts der dort getroffenen Aussagen unseres jetzigen Oberbürgermeisters Spies nur an den Kopf fassen, der da meinte, es sei in dieser Sache ja noch nichts ausreichend konkretes erarbeitet worden. Ich kann daraus leider nur schließen, dass er von all diesen Dingen noch nichts gehört geschweige denn gelesen hat und also völlig im Dunkeln tappt.
Man kann nur hoffen, dass sich dies ändert, denn dieses Vorhaben ist alles andere als ein Projekt „Wolkenkuckucksheim“, sondern bietet eine konkrete und vor allem nachhaltige Lösung der Wohnraum-, Lärm-, und Luftschadstoffproblematik in Marburg. Angesichts des bundesweiten Mangels an sozialem Wohnungsbau erwarte ich in diesem Bereich schon bald potente Förderprogramme und da könnte man mit einem solchen Konzept gewiss punkten, vorausgesetzt man nimmt das Ganze wirklich ernst.
Ein zweites Projekt, das uns am Herzen liegt, ist die Sanierung des Lokschuppens auf dem Waggohallenareal. Dort sollte nach unserer Ansicht ein Zentrum für gemeinnützige Marburger Vereine entstehen, denn Räumlichkeiten sind in Marburg nicht nur zu Mietzwecken, sondern generell knapp und ein solches Projekt würde sich in die dortige Kulturszene gut integrieren lassen. Die bislang kolportierten Pläne von Magistrat und Koaltion halten wir demgegenüber für weniger innovativ. Wir haben uns selbstverständlich auch zur sicherlich nicht einfachen Finanzierungsfrage schon ein paar Gedanken gemacht, die ich hier aber noch nicht mitteilen kann.
Das dritte Projekt ist das „Semsterticket“ für alle auf Solidarfinanzierungsbasis. Dazu habe ich schon genug geschrieben, die Details sind zudem in unserem Antrag vom vergangenen Januar im Ratsinformationssystem der Stadt nachzulesen. Grundsätzlich geht es darum, nicht nur wie bislang von allen über Steuergelder die Strassen für den privaten Personenverkehr zu finanzieren, sondern dann konsequent wenigstens auch den öffentlichen Personennahverkehr. Es gibt nämlich auch andere Verkehrsteilnehmer, als PKW-Fahrer, die bis zum heutigen Tag den PKW-Fahrern fein ihre „Fahrauflagen“ subventionierten – da ist es aus unserer Sicht nur gerecht, wenn auch die Autofahrer den ÖPNV Kofinanzieren (es geht lediglich um ca. 11,- Euro pro Monat!). Und von Gerechtigkeit halten wir sehr viel.
Viele andere wichtige Themen, z.B. dass auf Grundsicherung angewiesene Renter von bürokratischen Auflagen entbunden werden sollten, werden wir vermutlich wieder nur überregional angehen können.

Redaktion: Welche persönlichen Schwerpunkte wollen Sie verfolgen und wie sieht es mit der Einbrinung und Durchsetzung aus?

Mein persönlicher Schwerpunkt wird einerseits nach wie vor auf dem Thema Bürgerbeteiligung liegen. Dazu hatten wir bereits in der vergangenen Legislaturperiode einige Anträge eingebracht – da werden wir erneut aufgreifen, verbessern und erweitern. Insbesondere die Etablierung  fester Regularien zur Beteiligung der Bürger (Bürgerbeteiligungssatzung) und ein rege genutzes Bürgerbefragungssystem sind mir sehr wichtig. Viele Unzufriedenheiten lassen sich meiner Ansicht nach durch frühzeitiges Einholen von Meinungsbildern aus der Bürgerschaft vermeiden. Gleichzeitig wird die Einbindung der Bevölkerung in Entscheidungen trainiert – man hat sich landläufig ja leider längst von dem Anspruch getrennt, mitbestimmen zu dürfen und darin sehe ich auch die Kernursache für die Parteienverdrossenheit (Politikverdrossenheit gibt es nicht!). Aber auch den von uns bereits eingebrachten Antrag zum Bürgerhaushalt  wollen wir – wie in den Ausschussdiskussionen vereinbart – erneut aufgreifen, diesmal als fraktionsübergreifenden Antrag.
Andererseits müssen wir in Marburg das Wohnraumproblem anders angehen, als es bislang der Fall ist. Wir müssen weg vom kleinteiligen, innerstädtischen Grünflächenzupflastern und hin zu einer sinnvollen Umgestaltung und Erweiterung der Stadt. Und das bedeutet unterm Strich, dass einerseits die Stadtautobahn unter die Erde muss, damit darüber neuer Platz für Wohnraum entstehen kann. Andererseits müssen wir erneut nachdenken, inwieweit ein neuer Stadtteil Lahnberge sinnvoll ist und der bessere Anschluss der Aussenstadtteile (auch durch Anschlussbebauung) gelingen kann.
Schließlich finde ich es sinnvoll darüber nachzudenken, inwieweit der Biotechnologiestandort in Marburg weiter aufgestockt werden kann. Da haben wir bereits einen Schwerpunkt und wir haben eine Universität, die in diesem Bereich sehr viel zu bieten hat. Das ist eine hervorragende Grundlage, die sich weiter ausbauen lässt. Letztlich geht es Marburg gut, weil wir gerade auch in diesem Bereich auf erhebliche Gewerbesteuereinnahmen zählen können. Da sollten wir mit Priorität schauen, inwieweit wir Marburg noch attraktiver machen können, damit weitere Firmen sich hier ansiedeln. Dazu gehört Baulandausweisung und vieles mehr.

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