In Memorian The Hessians – zum US-Nationalfeiertag 4. Juli
Marburg 28.6.2016 – Gastbeitrag von Ursula Wöll Am 4. Juli 1776 beschlossen die 13 Kolonien der Ostküste ihre Unabhängigkeit von England. Ihre Unabhängigkeitserklärung ist ein wunderbares Dokument, das den Beginn einer neuen Zeit ankündigt. Zum ersten Mal wurden die Menschenrechte schriftlich fixiert und erhielten Gesetzeskraft. So ist in der Präambel die Rede von der Gleichheit aller Menschen und ihrem Recht auf Leben, Freiheit und Glückseligkeit. Wie so oft, klaffte allerdings zwischen Theorie und Praxis ein Riss. Selbst der Verfasser des Textes, Thomas Jefferson, hielt auf seinem Besitz „Monticello“ weiter Sklaven, wie auch Washington seine Plantage „Mount Vernon“ mit Sklaven bewirtschaftete. Natürlich wollten die Engländer ihre lukrativen Überseegebiete aufgrund eines Papiers nicht einfach aufgeben. Doch sie hatten nicht genug Soldaten, um den Status quo aufrecht zu halten.
Daher wandten sie sich an die deutschen absolutistischen Herrscher, die prunksüchtig über ihre Verhältnisse lebten. Die waren hoch verschuldet, obwohl sie die Untertanen bereits auspressten wie eine Zitrone. Letzteres kann man gut 50 Jahre später, 1834, im „Hessischen Landboten“ nachlesen. So kam es, dass zigtausende deutsche Soldaten, die von ihren Landesherren an Georg III. „verkauft“ wurden, auf britischer Seite in Amerika kämpfen mussten. Die meisten von ihnen kamen aus Hessen. Da sie im historischen Kriegsgetümmel weitgehend untergingen, möchte ich an diese armen Kerle erinnern.
Der Dichter Johann Gottfried Seume war einer der Unglücklichen, für die Landgraf Friedrich von Hessen-Kassel Subsidienverträge abschloss und kassierte. Er wurde in Vacha, also sogar außerhalb der hessischen Landesgrenzen, von Werbern des Kasseler Landgrafen eingefangen, nach der Festung Ziegenhain gebracht und die Weser hinunter entführt. „Überredung, List, Betrug, Gewalt, alles galt“, schreibt Seume später in „Mein Leben“. Die Atlantiküberquerung seines Seglers dauerte 22 Wochen! Das war keine lustige Kreuzfahrt, denn „in den englischen Transportschiffen wurden wir gedrückt, geschichtet und gepökelt wie die Heringe“. Die Lager unter Deck waren übereinander geschichtet, so dass man nicht einmal aufrecht in ihnen zu sitzen vermochte. Je sechs Mann teilten sich eines. Es war so eng, dass sie sich auch nicht auf den Rücken drehen konnten. Alle mussten sich zugleich umwenden, wenn der seitliche Mann „umdrehen“ rief. Die Soldaten erhielten, wenn überhaupt, nur gesalzenes (gepökeltes) Fleisch.
Ihre Generale dagegen reisten komfortabel. Der in Lauterbach geborene Adolph Friedrich Riedesel Freiherr zu Eisenbach hatte Frau und Kinder nachkommen lassen. Bei der Rückreise der Familie waren sogar Milchkühe an Bord: „Eine unserer Kühe wurde von einem der heftigen Stöße, die das Schiff bekam, aus der Hängematte, in welcher sie aufgehangen war, herausgeworfen und davon so zugerichtet, dass wir sie abschlachten lassen mussten“, schreibt Friederike von Riedesel in ihren Memoiren. Eine mutige Frau, nur dass sie leider auf der falschen Seite war und das nicht im mindesten reflektierte.
Man schätzt, dass England etwa ein Drittel seiner gesamten in Amerika kämpfenden Truppen aus Deutschland rekrutierte, insgesamt etwa 35.000 Mann. Landgraf Friedrich II von Hessen-Kassel schloss die meisten Subsidienverträge ab, und zwar ‚verlieh‘ er 17.000 Soldaten. Das Braunschweiger Herrscherhaus lieferte 4.300 Mann und erhielt für sie 2 Millionen Taler (zum Vergleich: Lessing erhielt als Bibliothekar in Wolfenbüttel jährlich 200 Taler). Das relativ kleine Hanau lieferte insgesamt 2.400 Soldaten, obwohl die gesamte Grafschaft Hanau 1775 nur 11.500 Einwohner hatte. Die Hanauer Kontingente wurden über den Rhein, Holland und Portmouth zum und über den Atlantik verschifft. Schließlich lieferten auch die Herrscher von Ansbach-Bayreuth und von Anhalt-Zerbst je 1.000 Mann. Sogar im Waldeck’schen Arolsen war Englands Unterhändler erfolgreich.
Von den gesamten 35.000 Soldaten erreichten höchstens 60 Prozent wieder die Heimat. Etwa 5.000 konnten desertieren und mindestens 8.000 verloren ihr Leben. Viele der Heimkehrenden werden verstümmelt gewesen sein. Man kümmerte sich noch wenig um die Verwundeten, die entsetzlich litten und erst am Morgen nach einer Schlacht aufgesammelt wurden. Henri Dunant sah noch 1859 auf dem Schlachtfeld von Solferino dieses Elend und gründete das Rote Kreuz, das sich um Verletzte beider Kriegsparteien kümmert. Das vom Erbprinzen Wilhelm erbaute Wilhelmsbad bei Hanau, an dem wir uns heute erfreuen, ist buchstäblich auf den Knochen dieser verschifften Soldaten erbaut.
Sie waren für ihre skrupellosen Herrscher keine Landeskinder, sondern lediglich gewinnbringende Faktoren. Der Hanauer Erbprinz widmet ihnen in seinem umfangreichen Tagebuch gerademal einige Sätze. So mit Datum 22. September 1783, als drei Kompanien aus Amerika zurück in Steinau eintrafen. „Sie zählten kaum ein Viertel ihrer erforderlichen Stärke“, schreibt er kurz, um zugleich zu seinen höfischen Bällen und Dinners zurückzukehren. Diese Kompanien waren 465 Mann stark ausmarschiert. Obwohl sie in der Neuen Welt nicht mehr in Kämpfe verwickelt wurden, starben 231 an Krankheiten, 45 konnten desertieren und 9 wurden von den Holländern abgeworben.
Da die einfachen Soldaten oft nicht lesen und schreiben konnten, sind – bis auf Seume – nur schriftliche Zeugnisse ihrer Generale überliefert. Doch diese Vorgesetzten überschlagen sich in Ergebenheitsadressen an ihre jeweiligen Landesherrn. Keiner desertierte. Im Fall Seume spielt die Marburger Archivarin Inge Auerbach den Zwang sogar etwas herunter, mit dem der Dichter eingefangen wurde. War der junge Mann nicht auf dem Weg von Leipzig nach Metz, um sich dort militärisch bilden zu lassen? Betrachtete er seine Entführung bald nicht wie ein unerwartetes Abenteuer?
Streiten wir nicht über Seume, zumindest die armen Bauernsöhne sahen das anders, die überdies als Arbeitskräfte für ihre Familien und Dörfer ausfielen. Deshalb meine Erinnerung an die 35.000 Namenlosen, die ungefragt in den Krieg gepresst wurden. Auch wenn wir durch spätere kriegerische Katastrophen an astronomisch hohe Opferzahlen gewöhnt sein mögen.