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Kasseler Grimm-Forscher lüftet das Geheimnis der „Aschenputtel“-Erzählerin

Grimmforscher Prof. Holger Ehrhardt

Grimmforscher Prof. Holger Ehrhardt

Marburg 2.7.2016 wm/red) Ende eines literaturhistorischen Rätsels: Der Kasseler Grimm-Forscher Prof. Dr. Holger Ehrhardt hat die Frau identifiziert, die die Erzählung „Aschenputtel“ zur Märchensammlung der Brüder Grimm beigesteuert hat. Es handelt sich um eine Marburger Kleinbürgerin, die 1814 verarmt und kinderlos in einem Siechenhaus starb. Die Entdeckung eröffne auch neue Perspektiven für die Forschung zu den Grimmschen Märchen, wird dazu mitgeteilt.

Ehrhardt, der eine Professur an der Universität Kassel innehat, veröffentlicht seine Ergebnisse im jetzt erschienen Band „Die Marburger Märchenfrau oder Aufhellungen eines nicht einmal Vermutungen erlaubenden Dunkels“. Demnach trug die Frau den Namen Elisabeth Schellenberg. Sie wurde 1746 als uneheliches Kind geboren, blieb ehe- und kinderlos und verbrachte ihre letzten Lebensjahre als Pfründnerin (dauerhafte Bewohnerin) im Siechenhaus St. Jost unterhalb des ehemaligen Weidenhäuser Tores. Zuvor hatte sie in einem Haus an der Mühltreppe eingangs der Altstadt gewohnt.
Wilhelm Grimm hatte die beiden Geschichten Aschenputtel und Der goldene Vogel 1810 von einer Marburgerin erzählen und aufschreiben lassen. Die Empfehlung dazu kam von Clemens Brentano, der die alte Frau als Erzählerin kennengelernt hatte – so viel war schon bisher Stand des Wissens. Während jedoch die Namen anderer Quellen der Grimmschen Erzählungen seit langem bekannt sind, blieb die Identität der mysteriösen „Marburger Märchenfrau“ bis heute ein Rätsel.

 Foto des ehemaligen Wohnhauses von Elisabeth Schellenberg in Marburg an der Mühltreppe, das noch steht. Foto Ehrhardt

Foto des ehemaligen Wohnhauses von Elisabeth Schellenberg in Marburg an der Mühltreppe, das noch steht. Foto Holger Ehrhardt

Ehrhardt ging nun bei seiner detektivischen Kleinarbeit von Hinweisen aus Briefen Wilhelm Grimms an seinen Bruder Jacob aus und verglich diese mit Tauf- und Sterberegistern Marburger Kirchen, Bewohnerlisten und Rechnungsbüchern der Armenhospitäler sowie weiteren Dokumenten. 

Brüder Grimm fügten französische Erzählzüge selbst hinzu
. „Nach Auswertung aller Dokumente kommt nur diese Frau namens Elisabeth Schellenberg in Frage“, bekräftigt Ehrhardt.

„Die Identifizierung war bislang auch deswegen nicht gelungen, weil Elisabeth Schellenbergs Cousine dies noch zu ihren Lebzeiten erschwerte. Sie verschleierte gegenüber den Grimms Elisabeths Rolle als Erzählerin, möglicherweise wegen ihrer unehelichen Geburt.“ Hinzu kamen fehlerhafte Einträge in den 200 Jahre alten Registern und falsche Annahmen der Forschung. „Für die Grimm-Forschung ist es von großer Bedeutung, wenn nun die Quelle von Aschenputtel und Der Goldene Vogel bekannt ist“, so Ehrhardt, der in seinem Band auch die Vita Elisabeth Schellenbergs rekonstruiert.

„Die Lebensumstände legen beispielsweise nahe, dass sie keinen Zugang zu Literatur und kaum Kontakt zu französischen Überlieferungen hatte.“ Das stütze einen Befund, den auch eine genaue Analyse der Texte liefere: „Die Brüder Grimm haben Züge aus französischen Überlieferungen oder aus Buchmärchen selbst zu diesen Erzählungen hinzugefügt“, so Ehrhardt. „Diese Erkenntnisse stehen gegen eine in den letzten Jahrzehnten in der Grimm-Forschung populär gewordene Auffassung, wonach den Brüdern Grimm literarische beziehungsweise außerdeutsche Einflüsse nicht bewusst gewesen seien.“

Zeichnung von Otto Ubbelohde als Illustration des Märchen vom Aschenputtel

Zeichnung von Otto Ubbelohde als Illustration des Märchen vom Aschenputtel

„Aschenputtel“ zählt zu den bekanntesten und beliebtesten der Grimmschen Märchen. Ebenso wie „Der Goldene Vogel“ war es bereits Bestandteil des ersten Bandes und der ersten Auflage der Kinder- und Hausmärchen. Jacob und Wilhelm Grimm sammelten und veröffentlichten die Erzählungen in ihrer Zeit in Kassel; das nahe gelegene Marburg war ihnen aber aus ihrer gemeinsamen Studienzeit vertraut.

Stadt und Universität Kassel haben sich in den vergangenen Jahren als ein Zentrum der internationalen Grimm-Forschung etabliert. So gibt es an der Universität Kassel seit 2012 eine Stiftungsprofessur zu Werk und Wirkung der Brüder Grimm, die Prof. Dr. Holger Ehrhardt innehat. Es ist die einzige Professur in Deutschland, die sich ausschließlich den Sprachkundlern und Märchensammlern widmet.

Holger Ehrhardt: Die Marburger Märchenfrau oder Aufhellungen eines „nicht einmal Vermutungen erlaubenden Dunkels“ (2016). Verlag Boxan, Kassel

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