Lehrkräfte nur unzureichend auf Schulalltag in Einwanderungsgesellschaft vorbereitet
Marburg 12.9.2016 (pm/red) Bundesweit hat etwa jedes dritte Schulkind einen Migrationshintergrund. Für einen Großteil der Lehrkräfte ist der Unterricht in Klassen mit Schülern unterschiedlicher Herkunft und Muttersprache längst der Normalfall. Doch werden Lehrerinnen und Lehrer in den meisten Bundesländern immer noch unzureichend auf den Schulalltag in der Einwanderungsgesellschaft vorbereitet. Dies gilt für Studium, Referendariat und die Lehrerfortbildung. Zu diesem Ergebnis kommt eine Analyse des SVR-Forschungsbereichs und des Mercator-Instituts für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache der Universität zu Köln.
In der Lehrerfortbildung gibt es zu wenige und zu wenig wirksame Angebote für die Arbeit mit sprachlich und kulturell vielfältigen Lerngruppen. Das zeigt die Auswertung der zentralen Fortbildungskataloge der 16 Bundesländer, die im Rahmen des Forschungsprojekts durchgeführt wurde. So weisen die Kataloge in Brandenburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Schleswig-Holstein und Thüringen einen vergleichsweise niedrigen Anteil an Fortbildungen zu sprachlicher und kultureller Vielfalt auf.
Neben der unzureichenden Zahl ist auch die zumeist kurze Dauer der Fortbildungen problematisch: Die meisten Bundesländer bieten vorrangig eintägige Veranstaltungen an. Dieser Zeitraum ist zu kurz, um Lehrkräfte systematisch auf die Anforderungen im multikulturell geprägten Schulalltag vorzubereiten.
Das Mercator-Institut hatte bereits in einer 2014 veröffentlichten Studie erstmals untersucht, wie sprachliche Bildung im Studium verankert ist. Damals war Deutsch als Zweitsprache nur in Nordrhein-Westfalen für alle Lehrämter verpflichtend. Eine Aktualisierung zeigt jetzt, dass mittlerweile in fünf Bundesländern alle angehenden Lehrkräfte gesetzlich verpflichtet sind, während des Studiums einen oder mehrere Kurse zum Thema Sprachbildung zu absolvieren: in Baden-Württemberg, Berlin, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein.
An den Hochschulen treffen Lehramtsstudierende auf sehr unterschiedliche Lernangebote: während einige Hochschulen Grundkenntnisse der Sprachförderung von allen Studierenden erwarten und diese entsprechend ausbilden, ist dies an vielen Hochschulen weder verpflichtend noch besteht die Möglichkeit, sich umfassend auf den Unterricht in heterogenen Klassen vorzubereiten.
Zwar gibt es derzeit in elf Bundesländern Vorgaben, die die Hochschulpraxis vereinheitlichen sollen, doch oft bleiben die Landesvorgaben vage und ohne sichtbaren Effekt in der Praxis. In den meisten Ländern hängt es auch im Referendariat vom Zufall ab, ob junge Lehrkräfte lernen, pädagogisch und didaktisch angemessen mit sprachlichen und kulturellen Unterschieden umzugehen.
Eine bessere Ausbildung würde sich positiv auf die Schul- und Unterrichtsqualität auswirken: Nur wenige Lehrkräfte werden derzeit systematisch darauf vorbereitet, ihren Unterricht so zu gestalten, dass alle Kinder unabhängig von ihrer Herkunft ihre mündlichen und schriftlichen Sprachkenntnisse verbessern können und somit eine Chance auf (höhere) Bildungsabschlüsse haben. Von einer solchen Förderung würden auch Kinder ohne Migrationshintergrund profitieren, die zum Teil ebenfalls deutliche Sprachdefizite aufweisen.
Dr. Cornelia Schu, Direktorin des SVR-Forschungsbereichs, sagte: „Wir müssen umdenken: Eine vielfältige Schülerschaft zu unterrichten, kann bei fast einem Drittel von Kindern mit Zuwanderungsgeschichte in den Klassen nicht mehr Sache weniger Spezialisten sein, sondern geht das ganze Kollegium an. Wir brauchen eine Grundausbildung in Sprachförderung und interkultureller Pädagogik für alle Lehrkräfte bundesweit. Das käme allen Kindern mit Sprachförderbedarf zugute, nicht nur den zugewanderten.“
„Fortbildungen, die auf den Umgang mit Vielfalt im Klassenzimmer vorbereiten, spielen nach wie vor eine untergeordnete Rolle. Noch dazu handelt es sich meist um kurze Input-Veranstaltungen, die nur zum Teil den Transfer in die Schulpraxis ermöglichen“, stellte Prof. Dr. Michael Becker-Mrotzek fest, Direktor des Mercator-Instituts für Sprachförderung. „Das Ergebnis ist ernüchternd, zumal sich die Bundesländer bereits 1996 mit einem Beschluss der Kultusministerkonferenz zum Ausbau interkultureller Aus- und Fortbildungsangebote verpflichtet haben. Diese Selbstverpflichtung ist nur teilweise eingelöst worden.“
Winfried Kneip, Geschäftsführer der Stiftung Mercator: „Bildungsintegration und Chancengerechtigkeit sind die zentralen bildungspolitischen Aufgaben in der Einwanderungsgesellschaft. Das gilt für die Kinder aus Zuwandererfamilien, die schon seit Jahren in Deutschland leben, ebenso wie für die etwa 325.000 schulpflichtigen Flüchtlingskinder, die 2014 und 2015 nach Deutschland gekommen sind. Entscheidend ist daher, dass Lehrkräfte besser vorbereitet werden, Schüler mit unterschiedlichen Voraussetzungen zu unterrichten.“
Für den systematischen Ausbau der Lehrerbildung zu sprachlicher und kultureller Vielfalt empfehlen SVR-Forschungsbereich und Mercator-Institut folgende Maßnahmen:
Alle Lehramtsstudierenden sollten eine Grundausbildung in Sprachförderung und im Umgang mit kultureller Vielfalt erhalten. Dies erfordert konkrete Vorgaben der Länder und eine Hochschullehre, die sich stärker am Bedarf der Schulpraxis orientiert.
Deutschlandweit sollten mehr Fortbildungen zu Sprachbildung, interkultureller Kompetenz und anderen akuten Qualifizierungsbedarfen wie z. B. Umgang mit traumatisierten Schülern angeboten werden. Die Angebote sollten verstärkt auf ganze Lehrerteams ausgerichtet sein. Zudem sollten die Länder bessere Rahmenbedingungen für Fortbildungen schaffen, die langfristig angelegt und für ganze Lehrerteams konzipiert sind.
Mehr Transparenz: Informationen über Aus- und Fortbildungsinhalte sollten nutzerfreundlich und an zentraler Stelle zugänglich sein. Darüberhinaus sollten Hochschulen, Landesinstitute und weitere Einrichtungen ihre Angebote nicht nur erweitern, sondern bestehende Qualifizierungsmöglichkeiten auch besser miteinander verzahnen. Ziel ist, dass Studium, Referendariat und Fortbildung künftig besser ineinandergreifen.