Bekommt die Freiheitsstatue kalte Füße ?
Marburg 8.6.2017 Gastbeitrag von Ursula Wöll Die Familie Jacobsohn wohnte in der Schückingstraße (heute Weißenburgstraße) im Marburger Südviertel. Der Sprachwissenschaftler Professor Hermann Jacobsohn wurde 1911 an die Marburger Universität berufen und im April 1933 wegen seiner jüdischen Herkunft von eben dieser Universität gefeuert. Kurz darauf, am 27. April 1933, warf er sich unweit des Marburger Südbahnhofs unter den aus Frankfurt kommenden Zug. Seine Tochter Hanna konnte am 20. Dezember 1940 in die USA flüchten. In dem Buch „Leben sie?“ schildert sie ihre Schiffsreise von Lissabon nach New York. Das Schiff verließ Lissabon am 20. Dezember 1940. Am 31. Dezember gegen 10 Uhr tauchte nach so vielen Tagen auf See die amerikanische Küste auf. „Ganz schmal sah man sie vorläufig noch am Horizont…Ganz langsam fuhren wir jetzt, die ersten Hochhäuser tauchten auf und dann sahen wir die amerikanische Freiheitsstatue. Bei dem Anblick war alles still, sogar die Kinder schwiegen und spürten etwas davon, was in den Erwachsenen vorging. Und von den Erwachsenen schlich sich einer nach dem anderen leise davon, manch eine Träne sah man…“
Bei diesem Satz auf Seite 125 des Buches „Leben Sie?“ (Begleitbuch zur Ausstellung im Jahr 2000 in der Uni-Bibliothek) kamen auch mir die Tränen. Generell ist ja die Abfahrt mit einem Schiff etwas besonderes und rührt an tiefere Schichten in uns. Es tutet, der Schornstein brüllt auf, und mit dem Schiff lösen wir uns vom Land, vom Bekannten, um dann irgendwo im fremden Unbekannten anzukommen. Wie groß aber müssen die Hoffnungen der Millionen von Emigranten aus Europa und erst recht die Hoffnungen der vor den Nazis Flüchtenden, also unfreiwillig Reisenden gewesen sein!
Allegorie für die Menschenrechte
Es waren Hoffnungen auf ein freies Leben ohne Angst, die für sie in der Freiheitsstatue verkörpert waren. Empfängt doch die Dame die Ankömmlinge mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Das Datum 4. Juli 1776 weist das Buch in ihrer linken Hand als diese Erklärung aus, in deren Präambel erstmals die Menschenrechte formuliert wurden. Der rechte Arm der riesigen Statue auf der kleinen Liberty-Insel vor der New Yorker Hafeneinfahrt ist hochgereckt und leuchtet mit der vergoldeten Fackel auf dem Weg in die Freiheit. Mit den Füßen steht die Freiheitsgöttin auf zerbrochenen Ketten.
Der 4. Juli. der Independence Day, ist bis heute nationaler Feiertag in den USA. An diesem Tag im Jahr 1776 unterzeichnete der American Congress in Philadelphia, also die Vertretung der 13 Neu-Englandstaaten, die Erklärung der Unabhängigkeit von England und bekannte sich in der Präambel zu den grundlegenden Menschenrechten wie die Gleichheit aller Menschen und deren Recht auf das Streben nach Glück.
Das in Stein gemeißelte Papier stammt aus der Feder Thomas Jeffersons, der nach Washington und Adams der dritte Präsident des jungen Staates wurde. Es beginnt mit den wundervollen Worten: „Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit.“
So übersetzte es eine deutschsprachige Zeitung aus Philadelphia bereits am 5. Juli 1776. Damals fiel niemanden auf, dass diese Grundsätze mit der Wirklichkeit kollidierten. So besaß Jefferson selbst Sklaven, die natürlich – wie auch die Frauen – nicht gleichberechtigt waren. Um 1790 gab es bei einer Bevölkerung von 4 Millionen immerhin bereits 700.000 Sklaven und etwa 60.000 freie Schwarze (die Zahl der verbliebenen Indianer ließ sich nicht finden).
Bis heute ist die Kluft zwischen reich und arm beträchtlich, ebenso die Diskriminierung ethnischer Minderheiten, die Gleichheit aller Amerikaner also ein nicht eingelöstes Versprechen. Leider steht zu befürchten, dass am 4. Juli nicht die Menschenrechte erinnert werden, sondern der Trump-Slogan „Make America great again“ im Vordergrund steht.
Die Menschenrechte gelten weltweit
Die Freiheitsstatue ist gut 100 Jahre jünger als die Unabhängigkeitserklärung. Sie war ein Geschenk von Frankreich zum 100. Jubiläum, ihre Aufstellung 1876 verzögerte sich jedoch wegen Geldmangel um wenige Jahre, denn den mächtigen Sockel mussten die Beschenkten selbst bezahlen. Warum gerade von Frankreich? Weil die Menschenrechte ja bereits von der französischen Aufklärung vorgedacht waren. Von Jefferson erstmals für die Neue Welt ausformuliert, wirkten sie stark auf den Gang der französischen Geschichte zurück, obwohl es weder Telegraf noch Dampfschiffahrt gab.
Im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg kämpfte auch der junge Marquis de la Fayette gegen die englische Krone. Nach seiner Rückkehr nach Frankreich war er es dann, der die Menschenrechte für sein Land formulierte und am 11. Juli 1789 der Nationalversammlung vorlegte. Jefferson, der damals, 1789, amerikanischer Botschafter in Paris war, leistete gerne Hilfe dabei. Auch in Frankreich blieb eine Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität. Auch hier galten die heeren Worte nicht für die Frauen, so dass Olympe de Gouches 1791 eine „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“ verfasste, für die sie dann unter dem Terror Robespierres 1793 hingerichtet wurde.
Nun also auch in der Alten Welt niedergeschrieben, entfalteten die Menschenrechte ihren explosiven Einfluss auf die Geschichte ganz Europas. War doch die bisherige Ausübung der absolutistischen Macht von oben nach unten nun ersetzt durch das Prinzip der von unten nach oben legitimierten Macht. Die Autorität einer Regierung basierte nun auf der Einwilligung des Volkes. Vor allem, eine Regierung kann abgesetzt werden, wenn sie das Wohl der Regierten missachtet, dass es also „das Recht des Volkes ist, sie zu verändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen“, wie die Zeitung aus Philadelphia vom 5. Juli 1776 übersetzte.
Im Juli-Aufstand 1830 nahmen die Franzosen dieses Recht in Anspruch und stürzten ihre Regierung. Das Gemälde „Die Freiheit führt das Volk“ von Eugène Delacroix hält diese Tage fest und wurde zur Ikone. Die Allegorie der Freiheit in Gestalt einer antiken Göttin steigt auf die eroberte Barrikade und schwenkt die Tricolore.
Die französische Juli-Revolution von 1830 entfaltete auch in den deutschen Staaten ihre Sprengkraft und hatte eine ungeheure Politisierung zur Folge. Ebenso wie die Februarrevolution von 1848, mit der die Franzosen den 1830 eingesetzten „Bürgerkönig“ Louis Philippe wieder absetzten. Über dieses Ereignis wurde dank der neuen Telegraphenleitung von Paris nach Strasbourg und einer Estafette von da nach Augsburg schon einen Tag später in der Cotta’schen Zeitung berichtet.
Landauf, landab hörte man die Marseillaise auch diesseits des Rheins, und auch bei uns schritt man zur Märzrevolution und zur Wahl einer Nationalversammlung. Sie zog am 18. Mai 1848 feierlich in die Paulskirche ein, verabschiedete aber erst am 28. März 1849 eine Reichsverfassung, die sogar schon eine staatliche Gewaltenteilung vorsah. Sie zählte in differenzierter Form die bisher missachteten bürgerlichen Grundrechte auf, garantierte ausdrücklich die Pressefreiheit, die Vereins- und Versammlungsfreiheit, die Glaubensfreiheit und die Gleichberechtigung der Konfessionen.
Auch die Paulskirchen-Abgeordneten hatten allerdings dabei nicht an die Frauen gedacht. Trotzdem war der Verfassung eine Umsetzung versagt, weil sich vor allem Preußen sträubte. Im April 1849 schon wurde die Nationalversammlung aus der Paulskirche vertrieben, sie tagte noch eine Weile als Rumpfparlament in Stuttgart weiter und verschwand samt ihrer schönen Verfassung von der historischen Bühne.
Die Absetzung eines US-Präsidenten durch ein Amtsenthebungsverfahren ist bis heute möglich, wenigstens auf dem Papier. Viele wünschen sich ein solches “Impeachment“, um Trump loszuwerden, unter ihnen ich. Doch nachdem dieser Präsident durch den Abschluss von Rüstungsverträgen über 300 Milliarden mit Saudiarabien „glänzte“, kann man sich vorstellen, dass die mächtige Rüstungslobby dies verhindern wird. Und seit Trump die europäischen NATO-Partner in Brüssel ermahnt hat, ihren Wehretat schleunigst auf 2 Prozent des Sozialprodukts anzuheben, hat er endgültig den Beifall der Rüstungsindustrie (und mit seiner Leugnung des Klimawandels den Beifall der Öl- und Gasindustrie).
Die USA geben bereits jährlich über 600 Milliarden für Rüstung und Kriegsführung aus. Für die Bundesrepublik wären 2 Prozent etwa 60 Milliarden für die Hochrüstung, und das Jahr für Jahr. Trump kürzt dafür bei den Armen, mit Wohlergehen der Regierten hat das nichts zu schaffen. Speziell die Neue Welt wurde zum Tollhaus, in dem sich die Freiheitsstatue sicherlich deplaziert fühlt.
Aber wo könnte die Freiheitsstatue einen angemesseneren neuen Standort finden? Soll sie zurück nach Europa kommen? Wer eine Idee hat, sollte sich melden.