Auf Wanderschaft mit Buchautor Florian Werner
Marburg 08.09.2029 | Buchvorstellung von Ursula Wöll Den Fuß nicht aufs Gaspedal drücken, sondern ihn zum Laufen benutzen: Das Wandern, allein oder mit vielen gemeinsam ist erst im bürgerlichen Zeitalter Mode geworden. Das und noch viel mehr kann man dem wunderbaren, noch druckfrischen Buch „Auf Wanderschaft“ entnehmen. Es erwähnt zwar die IAA nicht, sondern befasst sich mit zwei Füssen statt mit vier Rädern. Trotzdem schön, dass es noch rechtzeitig zur IAA und der großen Demo am 14. September gegen die Frankfurter Automesse erschienen ist. Als Kontrastprogramm beleuchtet das Buch mit viel Sprachwitz nicht nur das Wandern in der Natur, sondern auch das in der Stadt: Ziellos als Flaneur/Flaneuse oder als Protestmarsch mit einem ideellen und konkreten Ziel.
Gandhi und Martin Luther King als Vorbilder
Mahatma Gandhi, der übrigens am 2. Oktober seinen 150. Geburtstag hat, machte vor, wie man auf gewaltlose Weise seine Forderungen durchdrückt. Im Frühjahr 1930 lief er mit vielen anderen fast 400 km weit ans Arabische Meer. Der Zug, dem sich immer mehr Inder anschlossen, ging als ‚Salzmarsch‘ in die Geschichte ein. Er erreichte teilweise sein Ziel, nämlich dass die EinwohnerInnen Indiens das Salz ihrer Küsten kostenlos nutzen durften. Die Briten als damalige Kolonialmacht hatten das verboten und das lebensnotwendige Nahrungsmittel Salz zu ihrem Monopol erklärt und mit einer hohen Steuer belegt.
Der Bürgerrechtler Martin Luther King lernte von Gandhi. 1963 organisierte er den Marsch auf Washington. Zu dessen Abschluss hielt er seine berühmte Rede, die so beginnt: „I have a Dream…“ – Ich habe einen Traum, dass eines Tages meine schwarzen Kinder mit den weißen zusammen spielen werden. Es ging ihm um Gleichberechtigung aller US-Bürger und damit gegen die damals sogar noch gesetzlich verankerte Rassentrennung. Also um Gleichheit und Freiheit als lebensnotwendige Nahrungsmittel der Seele. Die Rede endete mit der Utopie aus einem alten Spiritual: „Endlich frei, endlich frei, Danke Gott, Allmächtiger, endlich frei!“
Ein Protestmarsch mit vielen Tausenden beeindruckt nicht nur die Adressaten ihrer Forderungen, sondern auch die TeilnehmerInnen selbst. Sie sehen sich durch viele andere in ihren Meinungen bestärkt, besonders wenn man gemeinsam im Gehen singt. Welch schönes Gefühl etwa das Lied „We shall overcome…“ vermittelt, kann ich aus Erfahrung bezeugen. Die Demonstranten werden aus dem Bedürfnis nach gesellschaftlicher Veränderung aktiv, sie tun gewaltlos das ihnen maximal Mögliche. Laufen können schließlich alle gesunden Menschen ohne Ausbildung und Aufwand. Und ihr Kopf wird durch den Austausch mit den Nachbarn und die kollektive Bewegung für neue Gedanken frei. Kein Wunder, dass auch in diktatorischen Regimes zu diesem Mittel gegriffen wird, man denke nur an die Hitler- oder Mussolini-Aufmärsche. Auf ihnen vollzieht sich allerdings alles nach Vorschrift, bis hin zur Kleidung. Sie machen nicht freier, sondern überwältigen die TeilnehmerInnen.
Der Protestmarsch gegen die IAA verfolgt menschenfreundliche Ziele. Angesichts des voll im Gang befindlichen Klimawandels, der durch das Auto mitverursacht wird, ist eine Demonstration überfällig. Viele Tausende, jung und alt, werden sich per pedes oder mit Fahrrad einfinden, um gegen den anhaltenden Autowahn und für einen Ausbau der Öffentlichen Verkehrsmittel zu protestieren. Das Auto nimmt uns nicht nur die Luft zum Atmen, sondern verursacht auch Lärm, Versiegelung des Bodens, Unfalltote und Stress (am 5. 9. etwa betrug laut WDR die Länge der Staus 174 km allein in Nordrhein-Westfalen). Genaueres zu den Zielen und dem Ablauf der Demonstration am 14. September in Frankfurt erfährt man unter www.iaa-demo.de
Das von mir angepriesene Buch „Auf Wanderschaft“ beschäftigt sich nur zu einem Teil mit kollektiven Protestmärschen. Es singt das Hohelied des individuellen, zweckfreien Wanderns in der Natur. Das wurde erst im bürgerlichen Zeitalter Mode. Und seitdem ist es auch Thema der Literatur und der Malerei. Das Buch bringt farbige Abbildungen, zeigt etwa ein Gemälde von 1891, auf dem Ilja Repin den Schriftsteller Leo Tolstoi während einer Rast im Wald mit einem Buch im Gras darstellt. Im Buchtext empfiehlt Autor Florian Werner allerdings, kein Buch mitzunehmen, überhaupt nur das Nötigste zu verstauen. Die Gedanken sollen sich während des rhytmischen Bewegens der Füße frei entwickeln und frei schweifen können.
Sie sollen sich freimachen von dem Kleinkram des Alltags, so wie es der Maler Caspar David Friedrich mit seinem berühmten Bild „Der Wanderer über dem Nebelmeer“ bereits 1818 audrückt.. Es macht gar nichts, wenn man sich mal am Scheideweg irrt und sich verläuft. Auch die Gedanken laufen ja nicht geradlinig auf ein Ziel hin, sondern kreisen schöpferisch umher. Wandern oder Spazierengehen wirkt nur dann entschleunigend, wenn man sich kein Zeitlimit setzt. Auch an die „Wanderin“ hat Autor Werner in einem extra Abschnitt gedacht. Als Abbildung finden wir ein Gemälde des bereits erwähnten russischen Malers Repin. Er zeigt seine Frau Wera auf einer Brücke im Park lustwandelnd.
Das seit einem Monat vorliegende Buch stellt thematisch nicht nur einen totalen Kontrast zur immer noch zelebrierten Automesse dar. Es ist auch zum Verschenken sehr gut geeignet, ist gebunden, aber handlich und schön gestaltet.
Florian Werner: Auf Wanderschaft, 2019, 159 Seiten, farb. Abbildungen, geb. Ladenpreis 15 Euro