Der fremde Ferdinand – Literarische Spurensuche von Heiner Boehncke und Hans Sarkowicz entdeckt Ferdinand Grimm
Kassel 12.01.2021 In Kassel kennt jeder die Brüder Grimm Jacob und Wilhelm, beide hochbegabt und erfolgreich, die übrigen vier Geschwister Carl, Ferdinand, Ludwig Emil und Charlotte sind dagegen den wenigsten bekannt. „Die andere Bibliothek“ hat im August 2020 ein besonderes Buch von Heiner Boehnke und Hans Sarkowicz veröffentlicht : „Der fremde Ferdinand“. Erst im der Untertitel wird offenbart, um wen es sich handelt: Märchen und Sagen des unbekannten Grimm-Bruders. Im vorliegenden Band wird nun endlich Ferdinand gewürdigt. Aus finanziellen Gründen konnte er nicht studieren wie die älteren Brüder Jakob und Wilhelm. Daher wurde von diesen seine Sammlung von Märchen und Sagen als unwissenschaftlich abgetan, obwohl sie gerne seine Unterstützung ihrer Märchensammlung annahmen. Dazu bietet das Buch umfangreiche Kostproben seiner Erzählkunst mit Volkssagen und Märchen, teilweise aus veröffentlichten Werken, teilweise aus seinem Nachlass. Auf seinen Reisen, oft zu Fuß, knüpfte er Kontakte und ließ sich Märchen und Sagen erzählen, deren Schriftform stammt also von ihm.
Die großen Brüder beschreiben Ferndinand Grimm in ihren Briefen häufig als faul – sicherlich war er weder so begabt und arbeitsbesessen wie diese. Die Autoren versuchen Verständnis für Ferdinand zu wecken und schließen sich nicht einfach dem in Briefen dokumentierten Urteil der gestrengen Brüder an. Es ist sicherlich eines der großen Leistungen dieses Buches, das es neben Ferdinand Grimms Schriften auch die Briefe aller Geschwister zu Wort kommen lässt. Daraus wird eine andere Lebensgeschichte Ferdinands entwickelt und gespiegelt mit seiner Problematik, im Schatten der hochbegabten älteren Brüder zu stehen.
Besondere Bedeutung gewinnt das „große Unglück“ vom 25. Dez. 1810. Nie wird genau benannt, worin dieses Unglück gestand. In Briefen wird über das „verkehrte, unnatürliche Leben“ des Bruders gesprochen. Die Schlussfolgerungen der Autoren, Ferdinand habe sich zu Weihnachten vor Familie und Gästen als homosexuell geoutet ,wird von ihnen schlüssig belegt. Damit erklären sich dann auch die Vorbehalte von Jacob und Wilhelm, die natürlich auch um ihren Ruf besorgt waren und gerne zu strengen Urteilen neigten.
So versuchten beide immer wieder, erzieherisch auf Ferdinand einzuwirken. Leider war Ferdinand beruflich nie so erfolgreich wie seine älteren Brüder und oft auf ihre Unterstützung angewiesen. Sein Erbe wurde allerdings auch von diesen verwaltet und er erhielt nur die von ihnen als angemessen angesehene Unterstützung.
Verarmt und krank verstarb er bereits 1845 im Alter von 56 Jahren in Wolfenbüttel.
Für Ihre verdienstvolle Arbeit über Ferdinand Grimm haben die Autoren viele hinterlassene Briefe und Archivalien ausgewertet, besonders erwähnt werden unter anderem die Berliner-Grimm-Schränke, ebenso der Kasseler Grimm-Schrank mit einem Brief von Ludwig Emil über die glückliche Steinauer Kindheit und natürlich das Staatsarchiv in Marburg. Das sorgfältig recherchierte Buch beleuchtet anhand der Briefe von und über Ferdinand seine Bezüge zu seinen Geschwistern und anderen Autoren und Zeitgenossen, zeigt die Schwierigkeiten seines Lebens sowie die häufig fehlende Anerkennung für seine Leistungen.
Leider werden die Literaturangaben nur in Fußnoten angegeben, ein Literaturverzeichnis im eigentlichen Sinne fehlt, es wäre wünschenswert.
Die liebvoll gestaltete Ausgabe mit Fadenheftung und Lesebändchen enthält viele hilfreiche Abbildungen und lädt ein zu einem genussvollen Lesespaß. Ein richtiges Buch, für alle Grimm-Interessierten, nicht nur für bibliophile Leserinnen geeignet. Die Leserin selbst hat viel über die Grimm-Geschwister erfahren. Dazu neue Märchen und Sagen die sich deutlich in Stil und Erzählweise von den bekannten Grimmschen Märchen unterscheiden, vielleicht auch deshalb so interessant, weil wir sie nicht schon als Kind gekannt haben.
Elsa Lund
Heiner Boehnke Hans Sarkowicz
Der fremde Ferdinand: Märchen und Sagen des unbekannten Grimm-Bruders.
Mit einem Vorwort und einer biographischen Erkundung von Heiner Boehnke und Hans Sarkowicz.
Bereichert mit zahlreichen Abbildungen
Berlin 2020, Die andere Bibliothek,
443 Seiten, geb. im Schuber ISBN 978-3-8477-0428-7