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Positive Entwicklung für Mittelschicht bis zur Corona-Krise – jetzt erleidet vor allem untere Mitte Einkommensverluste

11.11.2021 (pm) Die Mittelschicht in Deutschland ist trotz zunehmender Globalisierung in den Jahren vor der Corona-Krise wirtschaftlich nicht weiter unter Druck geraten. Im Gegenteil: Von 2014 bis 2018 sind Mittelschichts-Einkommen spürbar gewachsen. Diese Entwicklung ist ein wesentlicher Faktor dafür, dass die über den Gini-Koeffizienten gemessene Einkommensungleichheit in Deutschland insgesamt zwischen 2016 und 2018 leicht zurückgegangen ist – auch wenn sie weiterhin größer ausfällt als Anfang der 2010er Jahre und erst recht stärker ist als noch in den 1990er Jahren. Die relative wirtschaftliche Stabilität hat sich auch positiv auf Mentalitäten von Mittelschichtsangehörigen ausgewirkt: Die Angst vor Arbeitslosigkeit hat sich in dieser Gruppe zwischen 2010 und 2019 auf noch 30 Prozent fast halbiert. Rückläufig waren auch Sorgen um die eigene finanzielle Situation – allerdings auf weitaus höherem Niveau, nur geringfügig abgenommen haben Sorgen um die eigene Altersversorgung. In den vergangenen Jahren haben sich Angst vor Arbeitslosigkeit und Angst vor finanzieller Unsicherheit somit deutlich auseinanderentwickelt. Das zeigt der neue Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.

Durch die Corona-Pandemie haben auch zahlreiche Erwerbstätigen-Haushalte der Mittelschicht Einkommensverluste erlitten, rund die Hälfte berichtet davon. Dabei zeigen sich aber merkliche Unterschiede: So haben von den Erwerbspersonen in der gesellschaftlichen Einkommensmitte und der oberen Mittelschicht mit bedarfsgewichteten monatlichen Haushalts-Nettoeinkommen zwischen 2000 und 3500 Euro vor der Krise bislang knapp 45 bis gut 47 Prozent an Einkommen eingebüßt. Das ist teilweise geringfügig weniger als bei Haushalten, deren Einkommen vor der Krise etwas oberhalb der Mittelschicht lagen.

Das hat damit zu tun, dass Mittelschichts-Beschäftigte vergleichsweise oft in „Normalarbeitsverhältnissen“ tätig sind, die etwa durch Sozialversicherungen und Tarifverträge auch in der tiefen Krise abgesichert waren. In der höheren Einkommensschicht ab 3500 Euro finden sich hingegen mehr Selbständige, deren Geschäfte zum Teil stark unter der Pandemie litten. Mit Abstand am häufigsten von Einkommensverlusten betroffen waren indes Erwerbspersonen-Haushalte mit niedrigen Einkommen unter 1500 Euro netto, von denen gut 62 Prozent pandemiebedingt Einkommen verloren haben, gefolgt von der unteren Mittelschicht (1500 bis 2000 Euro), in der 54 Prozent betroffen sind. Zumindest für diesen Teil der Mittelschicht könnte sich die zuvor relativ gute Entwicklung also in den Corona-Jahren 2020 und 2021 umgekehrt haben – mit dem möglichen Resultat wieder zunehmender sozialer Ungleichheit.

„In den 2000er Jahren waren Abstieg und Schrumpfung der Mittelschicht ein häufiges Thema, auch in wissenschaftlichen Analysen. In den späteren 2010er Jahren hat sich ihre Situation entspannt, wie die Daten zeigen“, sagt Prof. Dr. Bettina Kohlrausch, wissenschaftliche Direktorin des WSI. „Das ist ein ermutigender Befund: Selbst in Zeiten internationaler Unsicherheiten und zunehmender Globalisierung schließen sich sinkende Arbeitslosenzahlen, verbesserte Arbeitsbedingungen und steigende Einkommen nicht aus.

Allerdings macht die Feinanalyse auch deutlich, welche Bruchlinien durch unsere Gesellschaft laufen: Positive Einkommensentwicklung und stabile Perspektiven ergeben sich vor allem bei den Teilen der Mittelschicht, die in die bewährten Strukturen des deutschen Arbeitsmarktes integriert sind. Dazu zählen etwa sozialversicherungspflichtige Beschäftigung, Tarifverträge und Mitbestimmung.

Die Situation in der unteren Mittelschicht ist hingegen deutlich prekärer, wie sich in der Corona-Krise wieder besonders klar zeigt. Reformen, die ‚normale‘ Beschäftigung stärken und den Wirkungskreis der sozialen Sicherung vergrößern, sind also auch im Interesse der Mittelschicht“, sagt Kohlrausch. „Die Tatsache, dass sich die Angst vor Arbeitslosigkeit und finanzielle Unsicherheit erheblich entkoppelt haben, zeigt zudem, dass Erwerbsarbeit auch für Angehörige der Mittelschicht keine langfristige Garantie für soziale Sicherheit darstellt. Dies verweist auf soziale Verunsicherung trotz steigender Löhne und sinkender Angst vor Arbeitslosigkeit.“

Das WSI empfiehlt daher, den Niedriglohnsektor zu verkleinern, etwa durch einen höheren Mindestlohn und eine Stärkung der Tarifbindung, sowie den Wirkungskreis der sozialen Sicherung auszuweiten. Zudem müsse der klimaverträgliche Umbau der Wirtschaft durch Investitionen so gestaltet werden, dass eine tragfähige Beschäftigungsbasis in Deutschland langfristig erhalten bleibe.

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