Protestbrief gegen Mittelkürzung vom Bund 2023: Erstorientierungskurse für Schutzsuchende und Zugewanderte in Hessen bedroht
04.01.2023 (red) In einem gemeinsamen Brief vom 15. Dezember 2022 protestieren Träger von Erstorientierungskursen in Hessen gegen geplante Mittelkürzungen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge. Entfallende Fördermittel im Bundeshaushalt 2023 bedrohen die Weiterführung des Programms für Geflüchtete mit seit Jahren erfolgreichen Erstorientierungskursen auch in den Landkreisen Marburg-Biedenkopf und Gießen.
Nachstehend wird der gemeinsame Brief der Träger, organisiert in der hessischen Zentralstelle Erstorientierungskurse (EOK), veröffentlicht:
Mittelkürzungen 2023 im Integrationsbereich: Drohendes Scheitern der BAMF-Erstorientierungskurse für Schutzsuchende und Zugewanderte in Hessen
Sehr geehrte Damen und Herren, 15. Dezember 2022
wir haben ein Problem: am 25. November 2022 hat der Deutsche Bundestag den Etat für 2023 beschlossen. Darin findet sich im Einzelplan 06 des BMI eine massive Kürzung von Mitteln für Integrationsmaßnahmen:
Bei den für die Sprachbildung der Geflüchteten so wichtigen Erstorientierungskursen (Haushaltsposten 684-14) wird es Einsparungen von EUR 45.600.000 (2022) auf EUR 23.213.000 (2023) geben!
Für Hessen heißt das: Das BAMF konnte uns von 280 beantragten Kursen nur 80 bewilligen – für ganz 2023, für alle Träger! Statt EUR 6,1 Mio werden nur EUR 1,9 Mio zur Verfügung gestellt – das bedeutet eine Finanzierungslücke von knapp 4,2 Mio. EUR.
Damit würden wir in Hessen spätestens Mitte 2023 keine Erstorientierungskurse (EOK) für Geflüchtete mehr anbieten können. Die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und dem Hessischen Ministerium für Soziales und Integration (HMSI) ins Leben gerufene Zentralstelle würde massiv Personal einsparen müssen.
Auch die Träger – einige seit der ersten Stunde dabei – müssten massiv Personal abbauen.
— Dies wohlgemerkt in einer Zeit, in der in der zentralen Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Hessen (EAEH) in Gießen täglich zwischen 150-200 Flüchtlinge ankommen, daraufhin an die verschiedenen EAEH-Standorte in Hessen verteilt und schließlich in die Kommunen transferiert werden.
Dieses Auseinanderdriften von stark ansteigendem Integrationsbedarf und stark absinkendem Integrationsangebot torpediert den sozialen Frieden in der Betreuung der Geflüchteten in Hessen.
Wir stehen bereits seit vielen Jahren vor großen Herausforderungen in der Betreuung von Flüchtlingen: die Flüchtlingslage seit 2015, 2022 der Überfall Russlands auf die Ukraine, seit Herbst 2022 Zugangszahlen auf hohem Niveau in der Hessischen Erstaufnahme und darauffolgend in den Kommunen.
Wir verfügen über starke Kapazitäten, diese Herausforderungen zu meistern: seit 1. Juli 2017 führen unsere Träger in Hessen die vom BAMF und dem HMSI beauftragten Erstorientierungskurse durch.
Und: Auf die bisherige Bilanz sind wir stolz – 585 Kurse an 165 Standorten mit insgesamt 17.429 unterrichteten Teilnehmerinnen und Teilnehmern. Hessen ist im Bundesvergleich der zweitstärkste Kursanbieter.
In der Pandemie zeigte sich einmal mehr die Flexibilität der EOK: Virtuelle Klassenzimmer und täglicher Videounterricht haben den Geflüchteten sogar unter Quarantänebedingungen einen Sprachkurs ermöglicht.
Wir sind überzeugt: Erstorientierungskurse (EOK) sind ein seit vielen Jahren in der Praxis bewährtes Instrument, um Integration in die Wege zu leiten. Sie sind das ideale Portal, durch das schutzsuchende Menschen Deutschland betreten. Dort werden sie von qualifizierten Fachkräften mit dem Wissen ausgestattet, das sie zum Ankommen im Alltag benötigen.
Erstorientierungskurse sind niedrigschwellige drei- bis viermonatige Kurse zur Vermittlung von Sprach- und Orientierungswissen für Schutzsuchende und Zugewanderte. EOK werden von uns hessenweit in Erstaufnahmen, in kommunalen Unterkünften und an zahlreichen anderen Standorten und Bildungsstätten unterrichtet. Neben der Ukraine sind die gegenwärtigen Hauptherkunftsländer die Türkei, Afghanistan, Syrien, und Iran.
Besonders hart trifft die Kürzung die Menschen in Erstaufnahmeeinrichtungen: Zum Stichtag 28. Oktober 2022 waren fast 7.500 Personen in den Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes Hessen untergebracht. Die hessischen Kursträger konnten in 2022 48 Kurse in den Einrichtungen anbieten und damit 2494 Personen mit einem EOK direkt vor Ort versorgen. In 2023 wird es in den Erstaufnahmeeinrichtungen nur noch 26 Kurse hessenweit geben, der von den Trägern geschätzte Bedarf liegt jedoch bei 57 Erstorientierungskursen.
Der Preis für diese Mittelkürzungen ist hoch, sehr hoch:
– Der Preis für das BAMF: ein 2016 evaluiertes und seit 2017 bundesweit etabliertes Integrationsmodell bricht massiv ein.
– Der Preis für uns als Zentralstelle: Personalwegfall, funktionierende Strukturen werden aufgelöst.
– Der Preis für uns als Träger: Personalwegfall, Strukturwegfall, Knowledge-Wegfall.
– Der Preis für das Land Hessen: der Wegfall hervorragender Maßnahmen zur Integration vor Ort.
– Der Preis für die Geflüchteten: sie werden sich selbst überlassen, ohne Unterstützung – ob in der Stadt, ob im ländlichen Raum. Um sie geht es eigentlich. Sie verlieren am meisten.
– Und zuletzt: Der Preis für uns alle: lange Wartezeiten auf einen Sprachkurs können weder integrationspolitisch noch in Hinsicht auf die Wahrung des sozialen Friedens gewollt sein.
Sehr geehrte Damen und Herren,
es ist uns vollkommen unverständlich, wie ein in voller Fahrt befindliches und erfolgreiches Modell unvermittelt abgebaut wird. Die getroffene Budgetentscheidung bei den Erstorientierungskursen steht in Widerspruch zur Fachkräftegewinnung aus dem Ausland.
Doch das Wehklagen führt uns integrationspolitisch nicht weiter. Als vor Ort Tätige wissen wir um den hohen Bedarf an Sprach- und Orientierungskursen. Wir fordern Sie daher eindringlich auf, sich dafür stark zu machen, bis spätestens März 2023 eine Nachbewilligung zu ermöglichen.
— Denn: es wäre katastrophal, dieses Programm scheitern zu lassen.
In der festen Überzeugung,
dass die EOK ein hervorragendes Mittel zur Vermittlung von Sprach- und Orientierungswissen sind
Davon ausgehend,
dass kein Interesse von Bundesseite daran bestehen kann,
die Erstorientierungskurse in Hessen scheitern zu lassen
In der Hoffnung,
dass im Frühjahr 2023 mutige Nachbewilligungen in konkrete Aussicht gestellt werden
In der Voraussicht,
dass die Lücke, die wir alle als Unterzeichnende dieses Briefes bei einem Scheitern hinterlassen würden, nicht zu schließen wäre
setzen wir auf Ihre entschlossene und nachhaltige Unterstützung, sodass wir auch weiterhin unseren klaren Beitrag zur Integration der Geflüchteten in Hessen und damit auch zur gesellschaftlichen Stabilität leisten können.