Beobachtungen in der Mitte – Zwischen Kassel und Marburg
17.01.2023 (yb) Eine mögliche Frage aus der Mitte im Krisen- und Kriegsjahr 2023 könnte dahin gehen, was Marburg Richtung Norden mit Neustadt, Schwalmstadt und Kassel verbindet. Die 1849/50 vollendete Main-Weser-Bahn als Antwort wäre allzu einfach. Was also ist der Universitätsstadt, der Kleinstadt, dem Mittelzentrum und der Großstadt in räumlicher Hinsicht gemeinsam?
Zunächst einmal ist es ihre Lage im nördlichen Hessen. Und Hessen ist das Bundesland in der Mitte – inzwischen mit Clusterbildung in Sachen Logistik – auf der Straße versteht sich. Nach Kassel unterwegs werden spätestens ab Schwalmstadt ausgedehnte Hallen-Bau-Komplexe dem offenen Auge zunehmend unübersehbar. In Borken hat es dabei noch Bahnanschluss, weiter auf der A 49 sind zunehmend beinahe Kilometer lange Lagerhaus-Komplexe zu passieren, auf Grüne Wiesen am Stadtrand gebaut, meist erst nach dem Jahr 2000.
Den genannten höchst unterschiedlichen vier Städten mit 70, 10, 20 und 200 Tausend Menschen ist ebenfalls gemeinsam, dass alle Kasernen still gelegt wurden – sie sind insofern militärfreie Zonen. Auch darum soll es – den Ukraine-Krieg gewissermaßen ignorierend – hier nicht weiter gehen.
Gemeinsam ist allen vier Leerstand
Einzelhandel, Bäckereien, Metzger, Textilgeschäfte, kleine oder größere Läden liegen brach. Schaufenster sind geleert und vielen, Hunderten oder mehr Häusern sind die gewerblichen Nutzer, oftmals als Mieter, abhanden gekommen. In der Marburger Oberstadt wurde alleine bereits eine zweistellige Anzahl festgestellt. Die Marktstraße in Neustadt macht einen verlassen verwaisten Eindruck. Nicht weniger die Wiederholdstraße in Ziegenhain oder die Bahnhofstraße in Treysa. Leere Schaufenster allerorten, zunehmend leere Bürgersteige, entleerte Innenstädte.
In der Oberen Königsstraße in Kassel, nun ja verlassen ist sie nicht. Auch dort fiel das Gebäude der früheren Sport-Arena an der Treppenstraße leer. Gegenüber zieht Sinn aus, wechselt in die Königs-Galerie. 8.000 qm Nutzfläche in Nordhessens Einkaufsmeile fallen brach. Leerstand auch in Kassel, wenngleich Galeria Kaufhof wohl erhalten bleibt, anders als in sehr vielen anderen Großstädten.
Mittels Eingreifen der Stadt Kassel wurde aus der vormaligen Sport-Arena das RuRuHaus für die Documenta 15. Womit wir bei Interventionen und Maßnahmen von Kommunen wären. Per Ankauf oder mitunter nur temporärer Anmietung wird versucht dem Leerstand mit all seinen Folgen entgegen zu treten. Innenstadtverödung soll und muss entgegen gewirkt werden. In Marburg gibt es inzwischen Vielräume und eine Quartiersmanagerin. Kommunale Initiaitve brachte einen Neustadt-Laden hervor. In Treysa wünscht man sich Urbanität zurück und herbei, mit nicht wenig Fördergeld wurde gerade das Café „Dätschweck“ in der einst belebten Bahnhofstraße als erwünschter Treffpunkt eröffnet.
Leerstand in der Mitte, genauer Stadtmitte, ob Kleinstadt oder Großstadt als Trend und ökonomische, gesellschaftliche und soziale Bedrohung der Stadtentwicklung. Um diesem nicht neuen, eklatant zunehmenden Phänomen vor Ort entgegen wirken zu können, werden in Hessen 10 Millionen Euro Fördermittel an 97 Städte verteilt. Das Programm Zukunft Innenstadt thematisiert, will mit Beratung und Zuschüssen gegen Leerstand mobilisieren. Dazu gehören auch Co-Working-Spaces, subventionierte Arbeitsräume für Gründer und kleine Selbständige. Vernetzung und „neue Formen des Wirtschaftens“, Stichwort Produkte aus der Region – gewissermaßen als vor-Ort-Strategie einer Deglobaliserung – werden propagiert und erprobt.
Bei alledem gibt es sehr viele Kulturschaffende und Künstler, an denen Brüche und Einbußen nicht vorbeigehen. Können Kulturschaffende, kann mit Mitteln der Kunst dazu beigetragen werden Innenstadtbereiche, Läden und Leerräume mit neuen Angeboten und Anbietern zu revitalisieren? Oder wird hier lediglich experimentiert und drohen am Ende eines Förderzeitraumes erneut verschlossene Türen und ausgeräumte Ladenlokale mit leeren Schaufenstern?
In der Mitte der Gesellschaft, zugleich inmitten von Städten, werden Strategien zur Stadtreparatur erprobt. Ab in die Mitte ist ein weiteres Förderinstrument in Hessen mit jährlichen Kampagnen unter Einbeziehung der Wirtschaft, Firmen als Paten und Sponsoren. Beeindrucken müssen die bescheidenen Finanzmittel, mit denen Strukturförderung versucht wird. Ob Leader-Programm der EU oder Kommunalförderung des Landes, in der Mitte – zwischen Marburg und Kassel – wurden bereits gestartet und starten 2023 interessante kleine Kunst- und Kulturprojekte, die zu beobachten und besuchen lohnt.
Den vielen engagierten Akteuren ist allemal Erfolg zu wünschen – keinesfalls brotlose Kunst oder vergebliches Kulturschaffen, sei es in der Weinkirche Kassel oder der Ritterstraße in Neustadt.