Nur noch 51 Prozent Tarifbindung in Hessen – Bei Vergabe- und Tariftreuegesetz hinkt das Land hinterher
06.07.2023 (pm/red) Eine neue Studie des WSI macht Deutlich, dass die Tarifbindung in Hessen aktuell bei 51 Prozent liegt – beim Vergabe- und Tariftreuegesetz hinkt das Land anderen Bundesländern hinterher.
In Hessen arbeiten aktuell 51 Prozent aller Beschäftigten in Unternehmen mit Tarifvertrag. Das Bundesland weist damit zwar immer noch eine der höchsten Tarifbindungen in Deutschland aus. Diese liegt jedoch nur knapp über dem bundesdeutschen Durchschnitt von 49 Prozent.
Seit Mitte der 1990er Jahre ist der Anteil der Beschäftigten, die von einem Tarifvertrag profitieren, von über 80 Prozent auf gegenwärtig nur noch rund die Hälfte aller Beschäftigten gesunken. Die Quote der Betriebe mit Tarifbindung beträgt in Hessen aktuell 21 Prozent.
Die sinkende Tarifbindung hat deutliche Konsequenzen für die Löhne und Arbeitsbedingungen. Beschäftigte, die nicht nach Tarif bezahlt werden, verdienen deutlich weniger als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Unternehmen mit Tariflöhnen. Im Bundesland Hessen beträgt der Rückstand über 8 Prozent gegenüber tarifgebundenen Betrieben.
Tarifverträge in Hessen
Beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales sind knapp über 8.000 Tarifverträge registriert, die aktuell in Hessen Gültigkeit haben. Den Kern des hessischen Tarifvertragssystems bilden fast 1.100 branchenbezogene Flächentarifverträge, darunter 573 Vergütungs- und 512 Manteltarifverträge. Hinzu kommen zahlreiche Firmentarifverträge, deren Bedeutung stetig zunimmt.
Sinkende Tarifbindung in Hessen
Wie in Deutschland insgesamt ist auch in Hessen die Tarifbindung der Beschäftigten seit Mitte der 1990er Jahre stark gesunken. 1996 lag sie noch bei 83 Prozent, ging seither jedoch kontinuierlich zurück. Während in den 2000er Jahre noch Werte zwischen 65 und 70 Prozent erreicht wurden, sank die Tarifbindung seit Mitte der 2010erJahre unter die 60 Prozent-Marke. Der rückläufige Trend hat sich seither sogar noch einmal verstärkt, so dass gegenwärtig nur noch wenig mehr als die Hälfte aller Beschäftigten in Hessen in Unternehmen mit Tarifvertrag arbeitet.
Branchen, Betriebsgrößen und Betriebsalter
Die Tarifbindung der Beschäftigten in Hessen reicht von 20 Prozent im Gastgewerbe und der Land- und Forstwirtschaft bis zu annähernd 100 Prozent in der öffentlichen Verwaltung. Die Wahrscheinlichkeit der Tarifbindung steigt insgesamt mit der Größe des Betriebes. Gleiches gilt für das Betriebsalter: Während noch 40 Prozent der vor 1990 gegründete Betriebe tarifgebunden sind, sind es unter den seit 2010 gegründeten Betrieben lediglich 17 Prozent.
Tarifbindung und Betriebsrat
Tarifbindung funktioniert dann besonders gut, wenn Betriebsräte sich um die Umsetzung der Tarifverträge kümmern. In Hessen arbeiten allerdings nur 48 Prozent aller Beschäftigten in einem Unternehmen mit Betriebs- oder Personalrat. Lediglich 40 Prozent sind in einem Betrieb mit Betriebsrat und Tarifvertrag tätig. Ähnlich wie bei der Tarifbindung ist auch die Verbreitung von Betriebsräten in den letzten Jahrzehnten deutlich zurückgegangen.
Tarifbindung und Arbeitszeit
In Hessen arbeiten die Beschäftigten in Unternehmen ohne Tarifvertrag im Durchschnitt pro Woche 40 Minuten länger als ihre Kollegen in Betrieben mit Tarifvertrag. Bereinigt um die unterschiedlichen Strukturen von tarif- und nicht tarifgebundenen Unternehmen erhöht sich das Tarif-Gap sogar auf 50 Minuten.
Niedrigere Löhne bei fehlender Tarifbindung
Beschäftigte verdienen deutlich weniger, wenn ihr Arbeitgeber nicht an einen Tarifvertrag gebunden ist: Der unbereinigte Rückstand beim Entgelt beträgt in Hessen mehr als 18 Prozent. Dies lässt sich teilweise mit den Unterschieden zwischen den Betrieben erklären, wie z. B. der Branchenzughörigkeit, der Betriebsgröße und der Qualifikationsstruktur der Beschäftigten. Der Lohnrückstand für Beschäftigte in tariflosen Betrieben beträgt im Mittel noch mehr als acht Prozent gegenüber ihren Kollegen in tarifgebundenen Betrieben mit ähnlichen Merkmalen.
22 Prozent mit Tariforientierung
22 Prozent der Beschäftigten in Hessen arbeiten in Betrieben, die zwar formell keiner Tarifbindung unterliegen, in Unternehmensbefragungen jedoch angeben, sich an bestehenden Branchentarifverträgen zu orientieren. Aus Sicht der Beschäftigten ist eine unverbindliche Tariforientierung jedoch kein Ersatz für eine vollwertige Tarifbindung, zeigt die WSI-Analyse. Dies gilt vor allem für die Entgelte, die auch in Betrieben mit Tariforientierung deutlich niedriger sind als in ähnlichen Betrieben mit einem verbindlichen Tarifvertrag.
Löhne in Hessen im innerdeutschen Vergleich
Innerhalb von Deutschland liegt das Lohnniveau in Hessen nach Hamburg und Baden-Württemberg mit einem Brutto-Medianlohn von 3.799 Euro im Monat an dritter Stelle. Letzteres liegt neben der im innerdeutschen Vergleich immer noch relativ hohen Tarifbindung vor allem an der besonderen Wirtschaftsstruktur Hessens, darunter insbesondere dem starken Gewicht von Finanz- und Versicherungsdienstleistungen.
Erheblicher Niedriglohnsektor in Hessen
Hessen hat gleichwohl auch einen erheblichen Niedriglohnsektor: Im Jahr 2020 erhielten gut 260.000 Vollzeitbeschäftigte im Land weniger als zwei Drittel des gesamtdeutschen Medianlohns (d. h. weniger als 2.344 Euro). Das entspricht 15,2 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten. Hessen liegt damit etwas unter dem gesamtdeutschen Durchschnitt von 18,1 Prozent.
Stärkung des Tarifsystems notwendig
Für eine Stärkung der Tarifbindung ist ein Bündel von Maßnahmen notwendig, so das WSI. Hierbei müssten alle relevanten Akteure, d. h. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, aber auch Staat und Gesellschaft, ihren Beitrag leisten. Wichtig sei vor allem eine Stärkung der Tarifverbände. Während die Gewerkschaften ihre eigene Organisationsmacht ausbauen müssen, sind die Arbeitgeberverbände gefordert, offensiv für das Tarifvertragssystem einzustehen und die Legitimation von Tarifflucht über die OT-Mitgliedschaften (ohne Tarifbindung) zu beenden.
Keine Initiativen zur Stärkung der Tarifbindung von der hessischen Landesregierung
Von Seiten des Landes Hessen gab es in den letzten Jahren keine nennenswerten Initiativen zur Stärkung der Tarifbindung. Bei der Reform des Hessischen Vergabegesetzes 2021 wurde im Gegenteil die Chance verpasst, dem bundesweiten Trend zu folgen und umfassende Tariftreueregelungen einzuführen.
Ähnliches gilt für die regionale Wirtschaftsförderung, wo es die Landesregierung bislang ablehnt, die Tarifbindung als Förderkriterium zu akzeptieren. Schließlich hat sich die hessische Landeregierung auch gegen eine Bundesratsinitiative zur Erleichterung der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen ausgesprochen, die ein wesentlicher Hebel zur Stabilisierung des Tarifvertragssystems sein könnte.