Wir leben fürwahr in finsteren Zeiten! – Johannes M. Becker beim Ostermarsch in Kassel
30.03.2024 Gastbeitrag | Liebe Freundinnen und Freude des Friedens, ich freue mich, wieder einmal in der Stadt des Friedensratschlages, des Kasseler Friedensforums, der documenta, meiner engen Freunde Peter Strutynski, Werner Ruf und all´ der anderen, zu Euch sprechen zu können.
Mit der genialen Musik von den genialen Band „Dylan´s Dream“, die Marburg vielfältig verbunden ist, kann heute nichts schief gehen! Jetzt müssen uns nur noch die Menschen zuhören. Schon 1999 im Jugoslawienkrieg, als unser Land das erste Mal nach dem 2. Weltkrieg mit Waffen in einen Krieg eingriff, dachte ich: Das ist eine neue Qualität, die Diskussion um die „Friedensdividende“ ist beendet. Und unsere BRD will wieder WER sein.
Heute schwätzt ein sozialdemokratischer Kriegsminister (von der deutschen Außenministerin schweige ich an dieser Stelle lieber) von der anzustrebenden „Kriegstüchtigkeit“ unseres Landes, das doch seine Steuergelder so dringend für andere Projekte benötigen würde:
- für die Ertüchtigung der KiTas, der Kindergärten, Schulen und Universitäten,
- für den Erhalt der Infrastruktur des Landes,
- für den wirksamen Kampf gegen den Klimawandel
- und so vieles mehr.
Zunächst ein kleines Stück von Franz-Josef Degenhardt (1931 – 2011)
Deinem Urgroßvater
Haben sie erzählt:
Gegen den Erbfeind.
Für das Vaterland.
Und er hat das tatsächlich geglaubt.
Was hat er gekriegt?
Granatsplitter in Beine
Und Kopp
Vor Verdun.
Deinem Großvater sagten sie:
Gegen die slawischen Horden.
Für die abendländische Kultur.
Er hat das wirklich geglaubt.
Was hat er gekriegt?
Bauchschuß und
Einen verrückten Kopp
Vor Stalingrad.
Deinem Vater erzählen sie jetzt:
Gegen die Völkermörder.
Für die Menschenrechte.
Für den Frieden.
Unglaublich – er glaubt´s.
Was er wohl kriegt?
Und wo wird das sein –
Diesmal?
Ich werde heute weniger auf die aktuell offenen Konflikte in der Ukraine und in Palästina eingehen – darüber wird gerade viel geschrieben und gesprochen. Ich möchte Euch die Erkenntnisse aus über 40 Jahren Friedensforschung darlegen, die ich in Marburg in Kooperation mit klugen KollegInnen wie Rainer Rilling, Gert Sommer, Marie Veith, Edith Franke – immer wieder in Verbindung mit den Werner Ruf, Peter Strutynski – und vielen anderen erarbeiten durfte.
Konflikte begleiten individuelles und soziales Handeln auf vielfältige Weise. Mit Militär werden keine politischen oder sozialen Probleme gelöst; Militär schafft in aller Regel nur neue. Die UN-Charta und unsere Verfassungen verbieten, ächten den Krieg. Wo der Einsatz von Militär letztlich unumgänglich notwendig erscheint, schaue man immer in die Vorgeschichte des Konflikts: Wäre er vermeidbar gewesen? Hätte es Alternativen im politischen Handeln gegeben? (die Notwendigkeit der Beachtung der VORgeschichte gilt natürlich auch in den beiden aktuell flagranten Kriegen. In der Ukraine und in Palästina!)
Das Beispiel 2. Weltkrieg wird mir immer entgegengebracht: Nun, wenn die Westmächte sich in den 1930er Jahren der Aufrüstung Nazi-Deutschlands entgegengestellt hätten, … Die Westmächte hofften aber, der deutsche Faschismus werde sich vornehmlich gegen die UdSSR richten, und an deren Vernichtung hatten viele ein Interesse.
Auch nehme man immer die Perspektive aller am Konflikt beteiligter Parteien ein, schaue man auf die späteren Strukturen von Militär „befreiter“ Staaten. Hier ist eine der Grund-Einsichten unserer Arbeit in Marburg seit den 1980er Jahren: ein Konflikt muss aus mindestens 2 Perspektiven betrachtet und analysiert werden.
Heute die Situation in Palästina ohne ihre Vorgeschichte, den Ukraine-Krieg ohne die Vorgeschichte seit der Wende, insbesondere seit 2014 angehen zu wollen, ist ahistorisch und führt zu nichts.
Und wenn man mir (oder Frau Krone-Schmalz) heute vorwirft, wir seien „Putin-Versteher“:
Ich möchte, ich muss doch ein Putin-Versteher sein! (WER denn sonst als ein professioneller Konfliktforscher!) Wenn ich, wenn meine Zunft, Putin nicht versteht, kann ich die Politik Russlands nicht verstehen. Das heißt doch mitnichten, dass ich die Politik Putins oder seiner Berater verteidige!
Ich habe auch den Papst neulich anders verstanden: Es geht ihm nicht um eine Kapitulation, sondern um die unbedingte Notwendigkeit, mit Russland zu verhandeln. Bislang haben wir es noch nicht wirklich versucht. Es gab lediglich ein paar erste Vorstöße und dann gleich Obstruktionen von Seiten einiger NATO-Länder. Erinnert Euch nur an den Skandal um „Minsk 2“ – wenn Schämen etwas nützen würde,
Und um gleich einen nächsten Einwand von Ihnen vorwegzunehmen:
Es ist eine Illusion, gerade mit waffenstarrendem Militär Frieden „stiften“ zu wollen oder Frieden zu „erhalten“. Der gegenteilige Effekt wird in aller Regel erreicht. Militärische Ausbildung hat andere Ziele.
Das Völkerrecht macht eine bedenkenswerte Ausnahme für den Fall, dass ein Land angegriffen wird (oder für den Fall, dass der UN-Sicherheitsrat den Weltfrieden in Gefahr sieht).
- Auch Angriffskriege, dies klingt zynisch, werden heute nicht mehr gewonnen – die letzten fünf, ja sechs sind kläglich gescheitert: Jugoslawien 1999, Afghanistan 2001 ff., Irak 2003 ff., Libyen 2011 ff. (im Gefolge Mali), Syrien 2011 ff., Ukraine 2022. Zudem haben die genannten Kriege zu enormen volkswirtschaftlichen, physischen wie psychischen Schäden geführt und haben große Fluchtbewegungen ausgelöst, mit weiterem ungeahntem Leid.
- Es gilt – grundsätzlich – immer wieder zu fragen: Was schafft, was produziert ein Panzer (im Vergleich mit einer Schule, einem Kindergarten, einem Radweg, einer Begegnungsstätte)? Was produziert ein/e Soldat/in (im Vergleich zu einem/r Lehrer/in)? Ein Blick auf die Rüstungsausgaben (2.000 Mrd. US-$ in 2022) zeigt ein katastrophales Ungleichgewicht zur weltweiten Entwicklungshilfe (120 Mrd. US-$). Die USA (780 Mrd.) wenden mit ihren 4 % der Erdbevölkerung hiervon etwa 40 % auf, die 29 NATO-Staaten insgesamt über 60 %. Das 2 %-Aufrüstungsvorhaben der NATO, das aktuelle 100 Mrd.-Aufrüstungsprogramm der Bundesregierung ist volkswirtschaftlich, vom Völkerrecht zu schweigen, Irrsinn. Unsere Forderung muss lauten: 2 % für die gewaltfreie Konfliktarbeit!
- Deutschland, die EU wie auch alle hoch industrialisierten Staaten sind militärisch nicht zu verteidigen, nicht gegen „Terror“ („9/11“), nicht gegen militärische Angriffe (diese Staaten sind allein wegen ihrer AKW, wegen der gesamten Computer- und Transistoren-Infrastruktur u.v.m. hoch verwundbar). In den USA sind Verteidigungssysteme wie SDI und NMD gescheitert. Vor ihrem Scheitern ruinierten sie noch die eigenen Volkswirtschaften und die anderer Länder.
- Die hoch industrialisierten Staaten sind nur gewaltfrei, zivil und sozial zu verteidigen – dies im weitesten Sinne des Wortes: Die EU-Länder müssen auch innerhalb ihrer eigenen Grenzen sozialen Ausgleich schaffen – derzeit läuft der Trend in die entgegengesetzte Richtung.
Die Reichen werden – gerade in Kriegszeiten – immer reicher. Ihr Anteil an der Umweltzerstörung ist exorbitant.
- Ein Seitenblick auf Ökologie und Klimaschutz: Militär und seine Manöver, von Kriegen zu schweigen, gehören schon im Frieden (!) zu den größten Umweltsündern. Ihr könnt Euch nicht vorstellen, was Militär schon beim Schweigen der Waffen an Umweltschäden anrichtet. Ein Nuklearkrieg würde die Erde unbewohnbar machen, ein begrenzter Nuklearkrieg würde Millionen in den Hungertod treiben. Eine Lieferung von TAURUS-Marschflugkörpern würde die Erde einem Nuklearkrieg unweigerlich näher bringen. Die Berichterstattung um diese Diskussion macht mich fassungslos.
- Das Gewaltmonopol auf der Erde muss auf die UNO konzentriert, d.h. nationalen oder Bündnisinteressen entzogen werden. Freilich muss die UNO demokratisiert werden – sie wird heute dominiert von den Atomwaffenstaaten, die zudem ökonomisch mächtig und die größten Rüstungs- und Rüstungsexportmächte sind. Der UN-Vollversammlung und den NGOs muss mehr Kompetenz übertragen werden. Ständige Sitze für bspw. Japan oder Deutschland im Sicherheitsrat sind hingegen kontraproduktiv. Die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) muss reaktiviert werden.
Deutschland muss wieder führend werden bei der Konversions-Politik
Zum Argument der angeblich erhaltenswerten Arbeitsplätze in der Rüstungsindustrie, gerade und auch in Kassel ein Thema: Ein Arbeitsplatz in der Rüstungsindustrie kostet den Steuerzahler ca. 130.000 € im Jahr, von denen etwa ein Drittel als Bruttolohnsumme in den Konsum geht. Ein Arbeitsplatz einer Lehrerin hingegen kostet 60.000 €, von denen etwa 45.000 € in den Konsum gehen. Die Rüstungsindustrie eingeschlossen den Export macht übrigens weniger als 1 Prozent des BIP Deutschlands aus, der Export 0,2 Prozent vom Export unseres Landes. Nur: Was richten Rüstungsproduktion und Waffenexporte an? Deutschland muss wieder führend werden bei der Konversions-Politik! Auch in Kassel lagern ungeahnte Potenzen!
Die aktuellen Profite der Rüstungsindustrie sind LEGENDE!
Ich fordere eine aktive vom Staat vorangetriebene Konversionspolitik im Dienste des Klimawandels statt den Irrsinn der Weiterverfolgung des 2 Prozent-Zieles! Manche in FDP und CDU faseln ja schon von 3 und 4 Prozent – Das ist unverantwortlich und ein Vergehen an der Zukunft unserer Jugend!
- Aus dem hier Genannten ergeben sich für die ökonomisch und politisch ungemein einflussreiche EU der 440 Millionen besondere Chancen, auch besondere Verantwortungen. Die aktuelle Aufrüstung der EU, Empfängerin des Friedensnobelpreis 2012, ist kontraproduktiv und eindeutig der falsche Weg.
Im Übrigen ist für mich das Friedensprojekt EU spätestens mit dieser jetzt beginnenden Hochrüstung gescheitert: Wenn sich die EU ein wenig rehabilitieren will – ich habe mit meinem Freund Dr. Kurt Bunke vom Cölber Arbeitskreis Flucht einen Plan entwickelt, auch um der rechten Hetze in Sachen MIGRATION etwas entgegenzuhalten:
Jeder reiche EU-Staat muss jedes Jahr die Gründung von 10 KITAs, zehn Schulen und einer Universität in einem Entwicklungsland finanzieren, um die Strukturen dieser Länder zu stärken und die dortige Jugend zu bewegen, in ihren eigenen Ländern etwas aufzubauen. Das absolute Gros der Flüchtenden verlässt nämlich sein Ursprungs- und Heimatland nicht gerne und freiwillig. Die weniger wohlhabenden EU-Länder finanzieren weniger. Das alles ist hundert Mal effektiver und humaner als die Rüstung!
La force des grands n´est que dans la tête des petits
Da das Gros der Flüchtenden nach wie vor aus Kriegsgebieten kommt: Stopp aller Kriegshandlungen oder -vorbereitungen! Die Frage, ob diese Erwägungen im Rahmen des bestehenden kapitalistischen Systems Realisierungschancen haben, ist nur zu berechtigt. Meine Zweifel hieran wachsen immer mehr. Grundsätzlich gilt für mich nach wie vor die Feststellung Heinrich Heines: „La force des grands n´est que dans la tête des petits“ – die Macht der Großen existiert zuvörderst in den Köpfen der Kleinen. Das meint: In unseren Köpfen!
Denkt an die Ereignisse in Lateinamerika, in Nordafrika in den vergangenen Jahrzehnten: Hier fanden Umwälzungen statt, die die Menschen dort noch nicht vergessen haben.
- Das Jahrzehnt der sozialen Umwälzungen in Lateinamerika kann jederzeit auf´s Neue beginnen.
- Der Arabische Frühling ist in der Jugend vor allem der nordafrikanischen Staaten nicht vergessen – trotz aller Rückschläge.
- Die alten Kolonialländer, allen voran Frankreich, machen gerade leidvolle Erfahrungen.
Das jüngste Erstarken der BRICS-Staaten ist noch nicht in Politikwirksamkeit umgesetzt. Vergesst nicht: „La force des grands n´est que dans la tête des petits“. Wir in unseren Ländern müssen auf der Straße bleiben, um der Rüstungsspirale, aktuell angetrieben von der unverantwortlichen Diskussion um die TAURUS-Marschflugkörper, Einhalt zu gebieten!
Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, mich heute und hier nicht in die Parteienpolitik einzumischen. Das Desaster, das die Ampelpolitik und die mit ihr verbandelte CDU anrichten, lässt mich jedoch nicht schlafen.
- Neben der lebensgefährlichen Kriegspolitik will ich nur auf den zum Himmel schreienden Skandal der Steuerhinterziehung hinweisen! 132 Mrd. Euro werden Jahr für Jahr hinterzogen.
- Und die Steuerhinterzieher sind zudem die größten Umweltsünder! Eine Kritik daran hat nichts mit Sozialneid zu tun. In einem unserer Lieder heißt es trefflich, „dass der das Brot jetzt bricht, der auch das Korn abmäht“.
- Der Zustand der Bündnisgrünen macht mich – schlicht – fassungslos und traurig! Sie haben offenbar leider keine tiefen Wurzeln in unseren emazipatorischen Bewegungen geschlagen. (Einzelne nehme ich von dieser Kritik natürlich aus.)
- Mir geht es bei diesem kleinen Exkurs vor allem um die deutsche Sozialdemokratie und ihren Zustand. Das Problem ist, dass wir ohne die friedensbewegten und geschichtsbewussten SPD-GenossInnen nicht weiterkommen. Ich sage das in der Stadt von Horst Peter, Eurem langjährigen Friedens-Bewegten MdB, Mit-Herausgeber der SWP). Die Willy und heute Peter Brandt, auch heute die Mützenich, ja auch die Schröder, müssen wir stärken – mir fällt nichts Besseres ein!
Und wenn ich Heinrich Heine mit seinem „La force des grands n´est que dans la tête des petits“ – die Macht der Großen existiert zuvörderst in den Köpfen der Kleinen noch einmal aufgreife: John Lennon und Yoko Ono haben gesungen: „You may say, I´m a dreamer.“ Und dann: „But I´m not the only one!“
Lasst uns an unserem Traum von einer besseren Welt weiter arbeiten – lasst uns analysieren und auf der Straße bleiben – und das nicht nur zu Ostern!
Ich danke für Eure Aufmerksamkeit!